Vor einem Jahr wurde mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eine Zeitenwende eingeläutet. Der neue Krieg auf europäischem Boden markiert den Übergang in eine neue Weltordnung. Im Fokus steht nicht mehr die enge Verflechtung durch den globalen Handel, sondern der Wettbewerb zwischen den Großmächten USA und China sowie deren jeweiligen Verbündeten. Neben den menschlichen und geopolitischen Implikationen hat der Konflikt auch langfristige Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die neue Ära, die „Great Transformation“, ist gekennzeichnet durch mehr Wachstum, insbesondere in den USA, höhere Inflation, höhere Realzinsen und eine höhere Volatilität. Die Folgen für die einzelnen Unternehmen zeigen sich etwa bei deren Margen und Gewinnen. Das veränderte Umfeld wird aber auch Auswirkungen auf ganze Sektoren haben, positive wie negative. Ein Ausblick, welche Folgen die Entwicklung auch für die Aktienauswahl hat.
Restrukturierung begünstigt einen Investitionsboom
Im Umfeld des Großmachtwettbewerbs steht mit Blick auf die Lieferketten nicht mehr allein die Effizienz im Vordergrund. Deren Absicherung im Sinne der nationalen und wirtschaftlichen Sicherheit ist nun mindestens genauso wichtig. Im Zuge dessen werden strategisch wichtige Lieferketten restrukturiert. Die USA will etwa die Bezugsquellen von Zukunftstechnologien wie Computerchips, Batterien, Elektroautos und kritischen Mineralien im eigenen Land oder in befreundeten Regionen ansiedeln. Die US-Regierung unterstützt diesen Umbau mit Investitionsanreizen von knapp 1,3 Billionen US-Dollar, die auch die klassische Infrastruktur sowie die Energiewende voranbringen sollen.
Daraus dürfte ein Investitionsboom resultieren, der langfristig die Produktivität steigern und das Wachstum antreiben dürfte. Die europäische Kommission ist momentan dabei, eine passende Antwort auf diese milliardenschweren Anreize zur Förderung des grünen und digitalen Wandels in den USA zu finden.
Lange vernachlässigte „Old Economy“ profitiert
Von diesen Investitionsprogrammen dürfte auch die lange vernachlässigte „Old Economy“ profitieren, die in Europa stärker vertreten ist als in den USA. Dazu gehören etwa Infrastrukturunternehmen aus den Bereichen Mobilität, Transport und Strom beziehungsweise Energie, Stahlproduzenten oder Maschinenbauer sowie Anbieter aus dem Automatisierungsbereich. Auch der Rohstoffsektor zählt dazu und hier vor allem Firmen im Bereich der erneuerbaren Energien. Vielfach sind die Unternehmen aus diesen Branchen dem Value-Segment zuzuordnen. Ein großer Teil der Gewinne und Zahlungsströme wird in der nahen Zukunft generiert, sodass sich höhere Zinsen weniger (negativ) in den aktuellen Bewertungen niederschlagen.
Growth-Titel andererseits sind Unternehmen, die meist erst weit in der Zukunft ihre Gewinne erwirtschaften und in Zeiten mit höheren Zinsen und höherem Wirtschaftswachstum weniger gefragt sind. Wachstumsaktien verlieren also an Dominanz, weil die höheren Zinsen den Wert künftiger Gewinne schmälern und in einem Umfeld von strukturell höherem Wachstum auch andere Unternehmen wieder auskömmlich Umsatz generieren. Entsprechend sind die Bewertungen hier bereits unter Druck geraten. Es empfiehlt sich, bei der Auswahl der Aktien noch genauer auf die Chancen des Geschäftsmodells zu achten.
Value-Aktien rücken in den Fokus
Grundsätzliche strukturelle Wachstumstrends wie der demographische Wandel und die Dekarbonisierung der Wirtschaft bleiben auch im neuen Kapitalmarktregime intakt. Hier gilt es, die wichtigsten Entwicklungen im Blick zu behalten. Unternehmen, die Lösungen für neue Anforderungen an Infrastruktur, Klimaverträglichkeit und Produktivität bieten, werden langfristig zu den Profiteuren gehören. Viele Value-Titel finden sich aktuell im Mittelpunkt zahlreicher struktureller Trends. Sie haben im Gegensatz zu Wachstumskonzernen den Vorteil günstigerer Bewertungen. Anbieter von Industriemetallen wie Kupfer oder von Industriegasen – Stichwort grüner Wasserstoff – bieten ebenfalls Chancen.
Doch auch Growth-Titel spielen eine Rolle. Hier bildet sich eine neue Gruppe von Unternehmen heraus, die sich bereits mit einer guten Entwicklung von den „Gewinnern von gestern“ abgrenzen können. Gerade beim Umbau zu einer klimafreundlicheren Wirtschaft finden sich Sektoren, denen langfristig eine Schlüsselrolle zukommen wird, beispielsweise Halbleiterhersteller und -zulieferer. Anbieter von Elektro- und Elektronikprodukten, oder auch von erneuerbaren Energien, die den Wandel hin zu einer CO2-freien Ökonomie beschleunigen, haben erhebliche Wachstumschancen. Zumal alle Unternehmen, die einen Beitrag zur nachhaltigen und digitalen Transformation der Wirtschaft leisten, vom staatlich geförderten Investitionsboom profitieren werden.
"Im Gegensatz zu den vergangenen 20 Jahren wird das Umsatzwachstum bei Unternehmen wieder zum dominanten Treiber für Gewinne." - Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien
Das neue Kapitalmarktregime sowie die übergreifenden Trends führen aber auch dazu, dass die Gewinnmargen der Unternehmen unabhängig von der Branche in einem neuen Licht betrachtet werden müssen. Die Restrukturierung strategisch wichtiger Lieferketten und die demographische Entwicklung lassen den Faktor Arbeit teurer werden. Zudem steigen die Herstellungskosten und auch die Investitionsgüterpreise aufgrund der Ausgaben für physische Investitionen, etwa in Fabriken und Maschinen. Aufgrund des strukturell höheren Zinsniveaus klettern überdies auch noch die Kapitalkosten.
Die Folge: Die Gewinnmargen der Unternehmen dürften grundsätzlich niedriger ausfallen als zuletzt. Im Gegensatz zu den vergangenen 20 Jahren wird das Umsatzwachstum wieder zum dominanten Treiber für Gewinne – wie es auch in den drei Dekaden vor 2000 der Fall war. Das bedeutet aber nicht, dass die Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr ausbauen können, denn das erwartete höhere Wirtschaftswachstum wird die Umsatzentwicklung und damit die Gewinnentwicklung stützen. Das gilt vor allem für Firmen, die dank einer starken Marktstellung über eine ausgeprägte Preissetzungsmacht verfügen. Sie können die gestiegen Kosten an die Kunden weiterreichen.
Mit Blick auf die strukturell höhere Inflation, die das neue Umfeld etwa wegen gestiegener Rohstoffpreise und des Investitionsbedarfs mit sich bringt, bieten Investitionen in Aktien auch einen gewissen Inflationsschutz. Die Anleger investieren in Unternehmen und damit in Substanzwerte. Anleihen bieten zwar auch wieder interessante Renditen, doch schützen sie als rein monetäre Investments nicht vor Teuerung. Deshalb bleiben Aktien langfristig unverzichtbar. Hier spielen Value-Titel im Gegensatz zu den vergangenen Jahren wieder eine große Rolle, bei Growth-Werten ist dagegen eine noch sorgfältigere Auswahl ansagt. Das führt auch dazu, dass europäische Unternehmen, die oft eher der „Old Economy“ angehören, gegenüber ihren wachstumslastigen US-Pendants aufholen können. Europa ist also wieder einen Blick wert. Vorübergehende Rücksetzer am Aktienmarkt aufgrund der noch andauernden Unsicherheitsfaktoren sollten dazu genutzt werden, aussichtsreiche Titel aufzustocken.
Von Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien und Mitglied des Union Investment Committee