Aber das ist noch nicht der gesamte Umfang der psychologischen Komponente, die das Anlegerverhalten seit Anfang des Jahres prägt. Mehrere psychologische Faktoren, die weitgehend unter dem Radar bleiben, kamen ebenfalls zum Tragen.
Ein zu großes Vertrauen auf Stabilität ist offensichtlich einer davon. In den 1980er Jahren argumentierte der Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky überzeugend, dass selbst Stabilität Instabilität hervorbringen kann. Dies geschieht indem diese Investoren dazu ermutigt, übermäßige Risiken einzugehen. Heute lässt es sich schwer vermeiden, die extremen Marktreaktionen als Folge des Ausbruchs des Coronavirus nicht als eine Art „Minsky-Moment“ zu betrachten, der auf ein Jahrzehnt abnehmender Aktienmarktvolatilität beruht.
Dies führt zu einem zweiten und ebenfalls gefährlichen psychologischen Faktor: Als die Virusepidemie Anfang dieses Jahres zum ersten Mal China heimsuchte, war niemand im Westen übermäßig besorgt. Obwohl dies angesichts der geographischen Entfernung bis zu einem gewissen Grad verständlich war, spiegelte diese "Ignoranz" zwei bekannte mentale Aspekte wider. Der erste besteht in der Annahme, dass die Welt aus streng getrennten Gesellschaften mit unterschiedlichen oder sogar gegensätzlichen Anliegen und Interessen besteht. Diese verbreitete Denkweise veranlasste die Europäer dazu, von den Ereignissen in der Provinz Hubei weitgehend unbeeindruckt zu bleiben. Später verleitete sie die Washingtoner Regierung dazu, zuversichtlich, ja sogar triumphierend zu behaupten, dass sich das Epizentrum der Epidemie nach Europa verlagert habe. Natürlich war allen bewusst, dass sich Epidemien insbesondere in einer derart vernetzten und globalisierten Welt immer weiter ausbreiten. Aber jene Ignoranz überlagerte dieses Wissen.
Der zweite mentale Aspekt ist ein unzureichendes Verständnis einer geometrischen im Gegensatz zu einer arithmetischen Ausbreitung des Virus. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sich bei einem täglichen Anstieg der Infektionen um 25 Prozent die Zahlen alle fünf Tage verdreifachen und in zwei Wochen aus 1.000 Fällen pro Tag 30.000 werden. Dennoch hat der menschliche Verstand Schwierigkeiten damit, sich dies in aller Deutlichkeit vorzustellen. Die englische Sprache beschreibt dieses Problem treffender als jede andere. Wenn ein Phänomen ein exponentielles Wachstum aufweist, so stellt sie die Art und Weise wie Menschen dieses wahrnehmen und einschätzen als somehow always "behind the curve" dar. Aus diesem Grund unterschätzten die meisten Beobachter, darunter insbesondere auch Investoren, durchweg die Geschwindigkeit, mit der sich die Epidemie ausbreitete: Sie haben zudem nicht rechtzeitig in vollem Umfang reagiert. Als ihnen klar wurde, wie sehr sie mit ihrer Reaktion auf die Ereignisse hinterherhinkten, gerieten sie in Panik. Sogar heute noch scheinen einige Experten überrascht darüber zu sein, dass jeder Tag Veränderungen bei der Ausbreitung des Virus mit sich bringt.
Ein dritter psychologische Faktor hat zweifellos besonders stark zu den dramatischen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und zum Zusammenbruch der Aktienmärkte beigetragen. Es handelt sich um die Schwierigkeiten, die wir im Umgang mit statistisch abnormalen Risiken haben. Der menschliche Verstand neigt dazu, Ereignisse in Wahrscheinlichkeiten zu betrachten: Wir versuchen das wahrscheinlichste Szenario vorherzusehen und dann ein plausibles Konfidenzintervall hierfür zu bestimmen. Daraus folgt, dass ignoriert werden kann, was noch nie vorgekommen ist oder was als ein statistischer Ausreißer weit entfernt von diesem plausiblen Szenario gelten kann.
Das Problem dabei besteht darin, dass dadurch seltene, abnormale Ereignisse außer Acht gelassen werden. Falls diese dann doch auftreten, können sie massive Veränderungen hervorrufen. Das erklärt, warum Pompei in "wahrscheinlich" sicherer Entfernung vom Vesuv, einem für lange Zeit ruhenden Vulkan, errichtet wurde. Oder warum Japan Kernkraftwerke am Meer baute. Die Schutzmauern waren ja schließlich hoch genug, um Tsunamis einzudämmen, die das Land in der Vergangenheit nur selten erlebte. Eine solche Missachtung der berühmten Schwarzen Schwäne, die der Essayist Nassim Taleb als unvorhersehbare, einschneidende Ereignisse bezeichnet, hat es schon immer gegeben. Aber das Streben der modernen Gesellschaft nach Optimierung könnte sie durchaus verstärkt haben. Höhere Mauern an der Ostküste Japans zu bauen als je zuvor nötig waren für ein größeres Maß an Sicherheit, wäre wohl kaum als sinnvoll erachtet worden. Ähnliche Kritik wird nun auch an den hohen Kosten geübt, die das Risiko-Management bezüglich der globalen Erderwärmung verursacht.
Gleichwohl wären auch eine Verdoppelung von Lieferketten oder der Verzicht auf die Aufnahme von Schulden trotz der Tiefstzinsen in den letzten zehn Jahren als wirtschaftlich optimales Verhalten angesehen worden. Dies hätte höchstens die Anfälligkeit der Systeme reduziert. Für Wirtschaftsakteure genauso wie zum Beispiel für Leistungssportler oder auch Formel1-Rennwagen besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Optimierung und Fragilität.
Die Fragilität der Finanzmärkte ist der Kompromiss für ihre bemerkenswerte Performance in den letzten zehn Jahren und das Ergebnis einer unkonventionellen Geldpolitik. Sie ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Finanzmärkte dem Coronavirus-Schock nachgegeben haben. Es liegt in der menschlichen Natur, sich als Folge einer Katastrophe nach Sicherheit zu sehnen. Das bedeutet, dass Verbraucher, Investoren, Unternehmen und Regierungen nach der gegenwärtigen Krise wahrscheinlich einen klareren Fokus auf das Risikomanagement für die kommenden Jahre legen werden.
Wenn jedoch alle Wirtschaftsakteure den gleichen Weg einschlagen, werden die Ersparnisse der Haushalte tendenziell zunehmen, die kostengünstige Produktion an den Rand gedrängt und die Verschuldung aus der Mode kommen. Vielleicht wird die Wirtschaft dadurch auf eine sicherere Grundlage gestellt, aber das Wachstum wird langsamer, die Unternehmen weniger rentabel und die Aktienmärkte weniger gut entwickelt sein. Mit anderen Worten: robuster und weniger optimal.
Didier Saint-Georges, Mitglied des strategischen Investmentkomitees bei Carmignac