Wie schätzen Sie die aktuelle Lage an den Finanzmärkten und der Weltwirtschaft ein?
Kevin Thozet : Seit fast einem Jahr erleben die Finanzmärkte dank der beispiellosen Maßnahmen der Regierungen zur Ankurbelung der Wirtschaft und auch dank der Unterstützung durch die Zentralbanken einen künstlichen Aufwärtstrend. Inzwischen ist die Weltwirtschaft dank der Hilfspakete jedoch wieder auf Kurs, sodass das Thema Wachstum für die Verantwortlichen in der Politik nicht mehr im Mittelpunk steht. Vor diesem Hintergrund meldet sich der Konjunkturzyklus nun unausweichlich zurück und ersetzt die beispiellosen Maßnahmen als treibende Kraft.
Wieso?
K.T. : Die Zentralbanken, die mit ihren Entscheidungen die Wirtschaftstätigkeit regulieren, ziehen sich zurück. Für sie werden wieder vermehrt Preisstabilität und ein stabiles Finanzsystem zur Priorität, wohingegen das Wirtschaftswachstum in den Hintergrund tritt. Gleichzeitig fahren die Regierungen zahlreiche Unterstützungsmaßnahmen oder Ankündigungen dieser stärker zurück, da sich das Wirtschaftswachstum immer mehr selbst trägt. Das wirft allerdings viele Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung von Hilfspaketen in diesem so außergewöhnlichen Zyklus.
Welche?
K.T. : Was geschieht, wenn die Stimulierungsmaßnahmen auslaufen? Wie werden die Finanzmärkte auf eine Normalisierung reagieren? Droht dann ein Absturz? Wird die Schwerkraft sie einholen oder kehren sie auf den Kurs zurück, dem sie langfristig tendenziell folgen?
Was bedeutet das konkret?
K.T. : Wie wir in den letzten Monaten immer wieder betont haben, dienen die USA während und nach der Krise erneut als Vorbild. Die USA stehen kurz vor einem Wendepunkt. Die US-Notenbank verfolgt aufmerksam die Preisentwicklung und hat dementsprechend ihre Rhetorik geändert. In den kommenden Monaten, vielleicht schon im Herbst, wird sie möglicherweise ihre regelmäßigen Anleihekäufe zur Unterstützung der US-Wirtschaft drosseln, vorausgesetzt, dass sich die Wirtschaftszahlen weiterhin gut entwickeln. Dieser Kurswechsel dürfte sich sehr langsam vollziehen, und die Aussicht auf eine Rückkehr der US-Notenbank zu einer konventionelleren Geldpolitik ist offensichtlich beruhigend – das zeigen die Reaktion an den Finanzmärkten und die unverändert positive Entwicklung von Risikoanlagen.
Ist also in den USA alles in bester Ordnung?
K.T. : Nein, auf keinen Fall. Es lauern durchaus Probleme. Zum einen scheint sich die Aufmerksamkeit immer stärker auf den Arbeitsmarkt zu verschieben. Diese stärkere Orientierung an den Arbeitsmarktdaten fördert tendenziell Schwankungen an den Finanzmärkten, da die Veröffentlichungen selbst volatil sind und immer wieder korrigiert und saisonal bereinigt werden. Sollte sich der Arbeitsmarkt besonders robust zeigen, besteht die Gefahr, sich die US-Notenbank zu Zinserhöhungen gezwungen sieht.
Warum wäre das ein Problem?
K.T. : Es erscheint paradox, da die Aussicht auf einen intakten Arbeitsmarkt normalerweise eine erfreuliche Nachricht ist. Das aktuelle Umfeld ist jedoch nicht normal, weil die Weltwirtschaft derzeit eine extrem hohe Verschuldung aufweist. Das Finanzsystem kann sich einen Zinsanstieg und die damit einhergehenden höheren Kreditkosten, auf die es inzwischen äußerst empfindlich reagiert, nicht leisten.
Welches andere Problem könnte entstehen?
K.T. : Was wird geschehen, wenn die US-Notenbank und andere ähnlich denkende Währungshüter ihre beispiellosen Unterstützungsmaßnahmen, an die sich die Finanzmärkte gewöhnt haben, reduzieren? Ein solcher Kurswechsel würde zweifellos früher oder später zu einer Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums führen. Bisher scheint die Rhetorik der Zentralbanken auf ein recht positives Echo zu stoßen. Dennoch sollten sich Anleger auf potenziell ungünstigere Finanzierungsbedingungen und die entsprechenden Folgen für die Finanzmärkte vorbereiten – auch wenn dieser Prozess schrittweise ablaufen dürfte.
Sie sprechen viel über die Zentralbanken. Was ist mit den Maßnahmen der Regierungen?
K.T. : Wir gehen nicht davon aus, dass die Regierungen die Hilfsmaßnahmen der letzten 18 Monate bis zum Jahresende beenden werden, stellen uns aber auf eine schrittweise Reduzierung ein. Mit den Nothilfen konnten zahlreiche Arbeitsplätze gerettet, das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen und Haushalten gewahrt und eine Pleitewelle verhindert werden. Wenn bestimmte Unterstützungsmaßnahmen reduziert werden, könnte die Zahl der Unternehmenspleiten und Zahlungsausfälle im Laufe der Zeit wieder steigen.
Der reale Konjunkturzyklus könnte viele Unternehmen einholen ...
K.T. : Genau. Die US-Regierung wird zudem ihre ambitionierten Ausgabenpläne höchstwahrscheinlich nach unten korrigieren müssen, da ihre Verhandlungsposition angesichts der wackligen Mehrheit der US-Demokraten schwierig ist. Daneben besteht die Gefahr, dass die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen für die Weltwirtschaft in diesem Jahr geringer ausfallen als ursprünglich erwartet und die vorgesehenen Mittel schon nächstes Jahr sinken werden.
Ist ein abrupter Abschwung der Weltwirtschaft zu erwarten?
K.T. : Nein. In den kommenden Quartalen dürften die Volkswirtschaften in den USA und Europa zweistellige jährliche Wachstumsraten erzielen, befeuert durch die Belebung beim privaten Konsum, im weltweiten Handel und im Tourismussektor. Danach rechnen wir jedoch mit einer Verlangsamung. Die chinesische Wirtschaft, die sich bereits früher als andere Volkswirtschaften erholt hat, kühlt sich bereits ab. Ohne Eingriffe der Zentralregierung in Peking dürfte das Wachstum in China bis Ende des Jahres unter sein Potenzial fallen. Das wird auch Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft haben, die besonders sensibel auf das Wachstum in China reagiert.
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
K.T. : Prognosen zum Höhepunkt eines Konjunkturzyklus sind immer eine heikle Sache. In früheren Zyklen läutete eine Drosselung der geldpolitischen Unterstützungsmaßnahmen allerdings stets die Wende des Konjunkturzyklus ein. Das wirkt sich logischerweise auf die Kursentwicklungen an den Börsen aus. Das aktuelle Umfeld ist daher günstig für Aktien, deren Gewinnwachstum weniger vom Konjunkturzyklus abhängig ist. Unser Portfolio ist aktuell mit solchen nicht-zyklischen Titeln bestückt – sie bilden das Rückgrat unserer derzeitigen Investments.
Lesen Sie hier den vollständigen Text von Carmignac‘s Note von Kevin Thozet