„Die Märkte sind in einer sehr heiklen Phase“
Häufig offenbaren sich die Botschaften der Anleihen- und Aktienmärkte Beobachtern über seltsame Umwege und sind mitunter schwer zu entziffern. Direkt im Anschluss an das letzte Quartal des zurückliegenden Jahres war die Botschaft eindeutig: Dank der Entwicklung von Impfstoffen mit vielversprechender Wirksamkeit sowie der Konjunkturpakete – vor allem in den USA – würde das globale Wirtschaftswachstum wieder auf die Beine kommen. Der Zinsanstieg und die Hausse an den Aktienmärkten im Zuge der Outperformance der zyklischen Sektoren spiegelten diese Erwartungshaltung wider.
Dann wurde die Lage ab dem zweiten Quartal dieses Jahres in den USA und einen Monat später in Europa etwas komplizierter. Ökonomen begannen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich die Erholung rasch abschwächen könnte, woraufhin die Zinssätze wieder eine sinkende Tendenz aufwiesen. Die Aktienmärkte tobten sich dagegen weiter aus angesichts des Paradoxes, das sie seit 2009 so gut stützt: Enttäuschende Konjunkturdaten gewährleisteten die kontinuierliche Unterstützung durch die Zentralbanken.
In diesem August wurde jedoch erneut eine völlig andere Botschaft gesendet. Während die Zinssätze nach einer kurzen Kehrtwende Anfang des Monats insgesamt bei ihrer sinkenden Tendenz zu bleiben scheinen, zeigen sich die Aktienmärkte dieses Mal um einiges zögerlicher. Mit dieser neuen Phase beginnt eine neue Interpretation der Märkte.
Zunächst einmal wurde der skeptische Ausblick der Anleihenmärkte in den letzten Wochen durch mehrere in den USA veröffentlichte Wirtschaftsstatistiken bestätigt: Die Kauflust US-amerikanischer Verbraucher erweist sich trotz haufenweise zusätzlicher Ersparnisse als enttäuschend. Eine plausible Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass die Verbraucher einen deutlichen Anstieg der Konsumgüterpreise aufgrund der Spannungen in den Lieferketten feststellen, und zwar genau in dem Moment, in dem die ersten während des Höhepunkts der Krise eingeführten Sozialhilfen allmählich zurückgefahren werden. Im Übrigen trägt die beschleunigte Ausbreitung einer neuen, noch ansteckenderen Variante sicherlich nicht dazu bei, dass sich die Stimmung der Verbraucher hebt, denn sie stellt den ursprünglich vorgesehenen Zeitplan für eine Rückkehr des Dienstleistungssektors zum Normalbetrieb überall infrage. Für die kommenden Monate wurden die Wachstumsaussichten deshalb fast einhellig nach unten korrigiert.
Gleichzeitig hat sich die Beschäftigungslage in den USA jedoch weiter normalisiert. Bei vielen ausgeschriebenen Stellen ist sogar eine echte Spannung zwischen Angebot und Nachfrage zu beobachten. Somit könnte auf den Preisanstieg bei Konsumgütern, der durch den vorübergehenden Anstieg der Materialpreise bedingt ist, eine länger anhaltende Inflation aufgrund eines Lohnzuwachses folgen, auch wenn die Verbraucher daran noch nicht zu glauben scheinen. Folglich nähert sich für Jerome Powell, den Vorsitzenden der US-Notenbank, der Augenblick des „Casus Belli“. Dieser tritt ein, wenn ihm seine Kennzahlenübersicht, aus der sich das als angemessen erachtete Leitzinsniveau ableitet, das Signal dafür gibt, dass er mit der Normalisierung seiner Geldpolitik beginnen sollte. Bevor die Zinssätze angehoben werden, werden im Zuge dieser Normalisierung zunächst die monatlichen Käufe von Staatsanleihen schrittweise zurückgefahren. Nun könnte diese Drosselung aber noch vor Jahresende beginnen.
Und genau dann könnte der Höhenflug der Aktienmärkte zum Erliegen kommen. Denn auch wenn diese Verschärfung der Geldpolitik in sehr kleinen Schritten erfolgt, stellt sie doch bereits an sich einen eher ungünstigen und neu einzuberechnenden Faktor dar und könnte sich überdies genau in dem Moment ereignen, in dem an den Märkten allmählich der Verdacht aufkommt, dass das künftige Wirtschaftswachstum überschätzt wurde. Sollte dieser Fall eintreten, dann wird vielfach von einem geldpolitischen Fehler die Rede sein. Gerechter wäre es vermutlich, anzuerkennen, dass das Hauptrisiko für die Märkte zurzeit vielmehr in einer Abschwächung des Wachstums in Kombination mit inflationären Spannungen besteht – also in einer Art „Stagflation 2.0“ –, und dass für ein solches Szenario kaum eine ideale Geldpolitik existiert.
In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass China den USA und in noch größerem Maße Europa in seinem Konjunkturzyklus weit voraus ist und diese für die Aktienmärkte äußerst heikle Etappe bereits auf seine Weise durchlaufen hat. Die Entwicklung des chinesischen Marktes hat durchaus unter den Folgen dieser Phase gelitten, die im Falle dieses Landes durch eine spektakuläre Verschärfung der regulatorischen Bestimmungen verschlimmert wurden. Es wäre nicht auszuschließen, dass sich seine relative Wertentwicklung im Vergleich zu den westlichen Märkten zumindest eine Zeit lang umkehrt. Dies gilt vor allem für seine oft erstklassigen Growth-Aktien.
Didier Saint-Georges, Mitglied des Strategic Investment Committee bei Carmignac