Während die Welt mit Spannung die Ankündigungen der Zentralbanken der USA und Europas erwartet, bringt die steigende Inflation die seit der Finanzkrise 2008 betriebene Geldpolitik ins Wanken. Mit anderen Worten: Nach mehr als einem Jahrzehnt unkonventioneller Maßnahmen zur Stützung der Weltwirtschaft könnten die Realwirtschaft oder die so genannte „Main Street“ zur treibenden Kraft für die US-Notenbank (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) werden.
In den letzten Wochen sind die langfristigen Zinssätze in Europa und den USA deutlich gesunken. Das spiegelt vor allem die Aussicht auf einen möglicherweise stärkeren Konjunkturrückgang im Jahr 2022 wider, auch bedingt durch neue Sorgen über die neueste Covid-19-Variante Omikron. Diese Abwärtsbewegung hat sich sogar noch beschleunigt, nachdem der kürzlich neu ernannte Fed-Vorsitzende Jerome Powell seinen Ton in Bezug auf die Inflation plötzlich geändert und bestätigt hat, dass die Geldpolitik früher als bisher erwartet gestrafft werden müsse.
Aufgrund der steigenden Preise müssen sich die Anleger auf ein neues Umfeld einstellen. Innerhalb von weniger als einem Jahr wurde das Umfeld einer scheinbar nicht endenden quantitativen Lockerung und langanhaltend niedriger Zinssätze zu einer Konstellation, in der eine deutliche und globale Straffung der Geldpolitik erwartet wird. Dennoch erfordern die jüngsten Entwicklungen eine tiefergehende und regional differenzierte Analyse.
Konjunktur und Geldpolitik in Europa und den USA driften auseinander
Während die Aussichten für die US-amerikanische und die europäische Wirtschaft zunehmend voneinander abweichen, scheinen sich die Erwartungen der Finanzmärkte für die kommenden Zinsentwicklungen nicht zu unterscheiden. Was die jeweilige Geldpolitik anbelangt, so bestehen unserer Ansicht nach gute Chancen, dass das geldpolitische Umfeld in Europa wesentlich lockerer bleiben wird als in den USA.
Einerseits scheint die US-Wirtschaft gegenüber dem Gegenwind, der den globalen Zyklus im Jahr 2022 voraussichtlich belasten wird, viel widerstandsfähiger zu sein als der Rest der Welt und insbesondere im Vergleich mit Europa. Dazu gehören etwa die neue Covid-19-Welle, der Lebensmittel- und Energiepreisschock oder die Verlangsamung des chinesischen Immobiliensektors. Auf der anderen Seite dürfte die Inflation in den USA sehr viel hartnäckiger sein, was vor allem auf den angespannten Arbeitsmarkt, aber auch auf die weitaus stärkere Gewichtung der Immobilieninflation zurückzuführen ist.
Selbst wenn die EZB das Ende ihres derzeitigen Programms zum Ankauf von Vermögenswerten im Rahmen der Pandemiebekämpfung ankündigt, rechnen wir mit einem weiteren Programm über März 2022 hinaus, wenn auch mit einem geringeren monatlichen Betrag. Im Gegensatz dazu dürfte die Fed ihre Verringerung der Anleihekäufe beschleunigen, um den Weg für Zinserhöhungen zu ebnen, möglicherweise schon Mitte 2022. Dennoch ermutigt uns das derzeitige niedrige Niveau der europäischen Zinssätze, auch hier vorsichtig zu bleiben.
Gergely Majoros, Mitglied des Investment Committee von Carmignac