Auf dem Papier ist für die heutige Sitzung der EZB nicht viel zu erwarten. Die meisten Ankündigungen wurden bereits in der letzten Sitzung gemacht: Beendigung des PEPP im März, Verringerung des Tempos der Nettoankäufe von Vermögenswerten, makroökonomische Prognosen und das APP, das zumindest für die kommenden Monate in Stein gemeißelt ist. Und im Dezember deuteten sowohl die Prognosen als auch Frau Lagarde eine "dovishe" Haltung an, indem sie die Möglichkeit von Zinserhöhungen bis 2022 zurückstellten.
Daher werden alle Augen und Ohren auf den Tonfall und die Kommentare von Frau Lagarde zum Thema Inflation gerichtet sein und darauf, wie sie die jüngsten Überraschungen an der Inflationsfront in einem Kontext bewertet, in dem die Inflation "gefährlich" nahe an der 2 %-Schwelle liegt und die Ungewissheiten eher in Richtung aufwärts tendieren.
Gemäß ihren jüngsten Prognosen rechnete die EZB mit einer Inflation von 3,2 % im Jahr 2022 und von 1,8 % im Jahr 2023 (im Vergleich zu den Markterwartungen von über 4,5 % bzw. 2 %), und die jüngsten Entwicklungen werden von der Institution sicherlich berücksichtigt. Noch wichtiger ist, dass die EZB einen starken Anstieg der Löhne und Gehälter auf 3 % einkalkuliert hat, der bereits berücksichtigt wurde, als sie im Dezember ihre Anleihekäufe aufstockte.
Die heutige Inflationsrate im Euroraum von 5,1 % (gegenüber der Konsenserwartung von 4,4 %) war in erster Linie auf die Energiepreise zurückzuführen, aber nicht nur, denn auch die Kernkomponenten des Inflationskorbs stiegen leicht an.
Wird die EZB wie in den Jahren 2017/2018 erneut aussetzen?
Angesichts der starken tatsächlichen Inflation und des geringeren, aber nicht unbedeutenden Anstiegs der Inflationserwartungen im Vergleich zum Zeitraum 2017/18 ist dies alles andere als sicher. Im vorangegangenen Zyklus waren die USA allein; die Europäische Zentralbank hielt die Geldpolitik zusammen mit der Bank of England, der Riksbank und der Reserve Bank of Australia (weitgehend) zurück. In diesem Zyklus hat die Bank of England bereits eine Zinserhöhung vorgenommen, und andere Zentralbanken weltweit bewegen sich ebenfalls zügig in diese Richtung.
Die Marktteilnehmer erwarten, dass die EZB den Zinssatz bis zum Jahresende einmal und im Jahr 2023 noch zweimal anheben wird, so dass der Leitzins bis Ende 2023 bei 0,25 % liegen wird. Ähnlich wie in den meisten Monaten des Jahres 2021 haben die Märkte die Aktionen der Federal Reserve, der Bank of England oder der Bank of Canada höher eingeschätzt als deren Guidance, und letztlich haben die Zentralbanken ihren Standpunkt geändert. Neben der höheren Inflation spiegeln die Marktpreise in Europa auch die Bedenken der Marktteilnehmer hinsichtlich der insgesamt aggressiven Zusammensetzung des EZB-Rats wider, in dem viele ehemalige Finanzminister der nordischen Länder vertreten sind, die sich lautstark gegen unkonventionelle Maßnahmen wie quantitative Lockerung und negative Einlagenzinsen ausgesprochen haben.
Was schließlich die Sorgen um die hoch verschuldeten Länder betrifft, so sind es nicht die drei Zinserhöhungen, die sich wesentlich auf die Tragfähigkeit der Schulden auswirken dürften, denn die durchschnittliche Laufzeit der Emissionen hat sich erheblich verlängert. Die Sorge gilt vielmehr den Anleihenkaufprogrammen, die derzeit vor der ersten Anhebung auslaufen sollen. Diese haben entscheidend dazu beigetragen, die Spreads unter Kontrolle zu halten. Nach den derzeitigen Zielvorgaben soll die quantitative Lockerung vor der Zinserhöhung enden. Damit ist frühestens in neun Monaten zu rechnen – aber die Finanzierung von Rekorddefiziten bei besonders hohem Schuldenstand ist die Hauptsorge bei den Staatsanleihen der Eurozone.
Kevin Thozet, Mitglied des Investitionsausschusses bei Carmignac