Sehr geehrte Damen und Herren,
angesichts der extrem hohen Volatilität der Finanzmärkte in diesem Jahr dürften viele von Ihnen sich so ratlos fühlen, wie Bob Dylan es so trefflich formuliert hat:
„It’s getting dark, too dark to see,
I feel like I’m knockin’ on heaven’s door“
Die zahlreichen Unsicherheiten sind unbestreitbar beängstigend. Sie schlagen sich vor allem in drei Bereichen nieder, werden sich dort jedoch womöglich als weniger problematisch erweisen als erwartet:
• Die Inflationsbekämpfung durch die Zentralbanken. Der pandemiebedingte plötzliche Einbruch der Wirtschaftsaktivität sorgte weltweit für einen beispiellosen Anstieg der Liquidität, während gleichzeitig staatliche Gelder in nie dagewesener Höhe in Konjunkturpakete gesteckt wurden. Daher konnte man Anfang des Jahres zu Recht von einer allmählichen Straffung der Geldpolitiken ausgehen. Daraus wurde jedoch nichts. Die Invasion in der Ukraine hatte erhebliche Auswirkungen auf die Preise für Energie und Agrarprodukte und zog beiderseits des Atlantiks einen Inflationsanstieg auf fast 10% nach sich, der die Ergreifung ausgesprochen restriktiver geldpolitischer Maßnahmen unvermeidbar machte. Außerdem hat Fed-Präsident Jerome Powell klargemacht, dass die Zentralbank nunmehr das Risiko einer Rezession in Kauf nimmt. Welches Ausmaß müsste diese haben, damit die Inflationserwartungen deutlich zurückgehen und insbesondere der sehr angespannte US-amerikanische Arbeitsmarkt sich beruhigt? Das lässt sich nur schwer sagen, denn die Motivation zum Arbeiten hat wegen Covid stark abgenommen. Wahrscheinlich werden aber viele, die zuletzt lieber daheim geblieben sind, in den nächsten Monaten wieder eine Arbeit aufnehmen, wenn sich ihre Angst vor einer Ansteckung ebenso verringert wie ihre während der Pandemie aufgebauten Ersparnisse und ihre Kaufkraft angesichts der Teuerung. Allerdings sind die 1980er-Jahre des Paul Volcker vorbei. Heutzutage schließt die niedrigere Toleranzschwelle gegenüber einem Konjunkturrückgang aus unserer Sicht das Risiko einer schweren Rezession aus. Da die Fed ein klares Mandat zur Inflationsbekämpfung hat, werden die USA vorerst weiterhin die globale Liquidität abschöpfen, was die Kurse sämtlicher Vermögenswerte belastet und dem Dollar weiter Auftrieb verleiht.
• Die Energiekrise in Europa. Der Schock ist beträchtlich. Der Anstieg der Energiepreise entspricht fast 10% des europäischen BIP, wird aber zum Großteil von den Staaten übernommen. Ferner sind die Risiken eines Energienotstands im Winter angesichts der aktuellen Füllstände der Gasspeicher und dank des Einsatzes anderer Energieträger sowie der Einführung von Anreizen zum Energiesparen spürbar gesunken. Solche Maßnahmen können jedoch nicht von Dauer sein und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften ist ernsthaft in Gefahr. Allerdings dürfte der Zusammenbruch der russischen Armee – den wir im April als wahrscheinlich erachtet hatten – die Amtszeit Wladimir Putins deutlich verkürzen. Dadurch steigt zwar die Gefahr einer Eskalation, aber gleichzeitig wird eine Palastrevolution wahrscheinlicher.
• Die Konjunkturverlangsamung in China. China ist nicht nur mit der Beseitigung einer Immobilienblase beschäftigt, sondern auch mit einer anderen Problematik: Der Null-Covid-Politik, die einen erheblichen Teil der Wirtschaft lahmlegt, sodass zurzeit fast 20% der unter 25-Jährigen arbeitslos sind. Wird sie nach der Wiederwahl Xi Jinpings auf dem Parteikongress in diesem Monat infrage gestellt oder erst auf der Tagung des Volkskongresses im März nächsten Jahres? Auf jeden Fall ist davon auszugehen, dass sie umgestaltet wird und die chinesische Wirtschaft anschließend umgehend aus ihrer Lethargie erwachen wird.
Ist der aktuell herrschende Pessimismus also letztendlich berechtigt? Aus der Analyse der bedeutendsten Unsicherheiten ergibt sich eine Reihe von Chancen. Solange die Ungewissheiten nicht mindestens teilweise beseitigt sind, werden wir jedoch im Umgang mit den Risiken unserer Portfolios weiterhin besondere Sorgfalt walten lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Edouard Carmignac