Sehr geehrte Damen und Herren,
Ökonomen aller Couleur warten – wie Wladimir und Estragon – seit Jahresbeginn auf eine Rezession. Doch wie Godot kommt die Rezession nicht. Auch wenn dieses Warten uns kaum dazu bringt, über den Sinn des Lebens nachzudenken, veranlasst es uns zumindest dazu, die atypischen Triebkräfte des Wirtschaftswachstums nach der Corona-Krise zu hinterfragen.
Der abrupte Stillstand aufgrund der hohen Ansteckungsrate von SARS-CoV-2 löste massive Unterstützungsmaßnahmen aus, mit denen die Regierungen die Einkommensverluste der Privathaushalte ausgleichen wollten. Dies führte in den USA zu zusätzlichen Sparguthaben in Höhe von elf Prozent des BIP. In Europa war dieser Überschuss zwar geringer, wurde jedoch durch zahlreiche Maßnahmen im Rahmen einer „Koste es, was es wolle“-Politik aufrechterhalten.
Viele Arbeitnehmer, die über solide Ersparnisse verfügen und es sich im Homeoffice bequem gemacht haben, wollen nicht mehr an den Arbeitsplatz zurückkehren. Unternehmer, die Schwierigkeiten haben, geeignete Arbeitskräfte zu finden sehen sich gezwungen, ihre Mitarbeiter mit zusätzlichen Anreizen zu halten. Immerhin, vor dem Hintergrund einer sich abkühlenden Konjunktur hilft die hohe Inflation, diese gestiegenen Kosten durch Preiserhöhungen teilweise auszugleichen.
Die Zentralbanken scheinen angesichts des Inflationsdrucks, der durch die beispiellosen Fiskalmaßnahmen ausgelöst wurde, machtlos zu sein. Zinserhöhungen und die Verringerung der Liquidität haben sich als wenig wirksam erwiesen. Vielmehr haben sie schwächere Banken noch geschwächt, und die Auswirkungen auf den Devisenmarkt sind nur schwer vorhersehbar.
Wie sind die weiteren Marktaussichten? Die Kombination aus einer schwer kontrollierbaren Inflation und hohen Zinsen ist grundsätzlich negativ für die Kurse von Vermögenswerten. Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, wie sehr die Notenbanker die verheerenden Auswirkungen eines plötzlichen Konjunktureinbruchs auf die Schuldentragfähigkeit in einer Zeit fürchten, in der die Schmerzgrenze der Bevölkerung in der westlichen Welt sehr niedrig ist. Zudem werden die Realzinsen voraussichtlich relativ niedrig bleiben, was sich positiv auf Investitionen und Wachstum auswirkt. Darüber hinaus dürften niedrigere Rohstoffpreise infolge der Konjunkturabschwächung in China, nachlassende Spannungen in den Lieferketten und ein geringerer Spielraum der Unternehmen für Preiserhöhungen in einem weniger günstigen Umfeld dazu beitragen, dass sich der Inflationsrückgang in den kommenden Monaten beschleunigt.
Dieses Szenario einer „makellosen Disinflation“, in dem die Wirtschaft von einer Rezession verschont bleibt, mag allzu optimistisch erscheinen. Es ist jedoch möglich und lässt Wladimir und Estragon womöglich noch länger auf Godot warten ...
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen entspannten Sommer.
Mit freundlichen Grüßen.
Edouard Carmignac