Keine typische Zinssenkung
Die Eurozone ist in besserer Verfassung. Es wird erwartet, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um 0,7 Prozent und im nächsten Jahr um das Doppelte wachsen wird, bei den Verbrauchern zeigen sich Anzeichen von Konjunkturbelebung und die Nachfrage zieht wieder an. Dennoch wird die Europäische Zentralbank (EZB) voraussichtlich am 6. Juni, knapp zwei Jahre nach Beginn ihres Straffungszyklus, ihre erste Zinssenkung vornehmen. Sie wird die erste der großen Zentralbanken sein, die den Ball ins Rollen bringt.
Leitzinsen runter, aber Normalisierung nicht vor 2025
Was die Leitzinsen betrifft, so besteht das Ziel darin, das historisch restriktive Niveau der EZB zu verringern. Der EZB-Rat erkennt das Ausmaß der Restriktivität fast einstimmig an und räumt ein, dass selbst bei einem Leitzins, der 50 Basispunkte unter dem heutigen Stand liegt, die Restriktivität bestehen bleiben würde. Am Donnerstag dürfte daher der erste Schritt in diese Richtung erfolgen, nämlich eine Senkung um 25 Basispunkte, wodurch die Zinssätze auf 3,75 Prozent sinken würden, während die Inflation weiter nach unten tendiert. Dies ist eine Erleichterung für die Wirtschaft, aber noch weit von einer Normalisierung entfernt.
Was die Inflation betrifft, so waren die Lohndaten uneinheitlich. Die Tariflöhne sind mit +4,7 Prozent im Jahresvergleich eher hoch, aber die Indikatoren für die voraussichtliche Lohnentwicklung deuten auf eine Verlangsamung der Lohninflation in Richtung 3 Prozent hin. Dies ist ein gutes Omen für eine weitere Disinflation der Verbraucherpreise im weiteren Verlauf, wobei die Gesamtinflation in der Eurozone bis zum Herbst auf 2 Prozent sinken dürfte. Es wird erwartet, dass die Kerninflation diesem Beispiel folgt und bis Mitte nächsten Jahres ein solches Niveau erreicht.
Die Markterwartungen von weniger als einer Zinssenkung pro Quartal für den Rest dieses Jahres erscheinen daher vorsichtig. Es würde uns nicht überraschen, wenn die EZB drei oder vier Zinssenkungen vornehmen würde – und im Falle einer unvorhergesehenen Konjunkturabschwächung möglicherweise noch mehr.
Was schließlich die Bilanz anbelangt, so dürfte das Portfolio des Pandemic Emergency Purchase Program ab Juli um 7,5 Milliarden Euro pro Monat reduziert werden. Dies bedeutet, dass die EZB in der zweiten Jahreshälfte weniger Anleihen kaufen wird, während die europäischen Finanzministerien bisher weniger als die Hälfte der für dieses Kalenderjahr vorgesehenen neuen Anleihen ausgegeben haben. Diese Emissionen werden von anderen Marktteilnehmern verdaut werden müssen.
Auswirkung auf die Finanzmärkte
Solche ‚Versicherungs‘-Senkungen sind positiv für das Wirtschaftswachstum. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer sanften Landung des Euroraums, oder genauer gesagt, einer besseren Entwicklung nach der Landung. Die Region ist recht zinsempfindlich (der Anteil der variablen Hypotheken in Südeuropa ist hoch und die durchschnittliche Laufzeit der Unternehmensschulden ist relativ niedrig), so dass die Vorteile niedrigerer Leitzinsen relativ schnell spürbar werden dürften.
Dies bietet einen günstigen Hintergrund für die Märkte für Unternehmenskredite, zumal Geldmarktfonds etwas an Attraktivität verlieren werden. Die Mittelzuflüsse in die Kreditmärkte sind bereits stark und die zusätzliche Unterstützung wird dies wahrscheinlich noch verstärken.
Auch für europäische Aktien insgesamt und insbesondere für die Segmente, die unter den restriktiven monetären Bedingungen gelitten haben, dürfte dies angesichts der Aussichten auf eine nicht-inflationäre Konjunkturerholung günstig sein. Dies ist ein Sweet Spot, zumal die Bewertungen in der Region sowohl historisch als auch im Vergleich zum Rest der Welt attraktiv erscheinen.
Was die Zinssätze betrifft, so scheinen sich die Märkte über die Aussicht auf drei Zinssenkungen der EZB im Jahr 2024 einig zu sein, wobei der Leitzins innerhalb von 12 Monaten bei oder über der 3-Prozent-Schwelle landen soll. Ein solches Szenario erscheint optimistisch, da es nicht berücksichtigt, was die EZB tun könnte, wenn sich die Wirtschaft verlangsamt. Auch wenn wir das kurze Ende der Renditekurve konstruktiv sehen, können wir nicht ausschließen, dass die langfristigen Zinssätze aufgrund besserer Wirtschaftsaussichten und einer kleineren EZB-Bilanz unterdurchschnittlich abschneiden.
Die Divergenz in der Geldpolitik zwischen der Federal Reserve (Fed) und der EZB ist für die Anleger ebenfalls von Interesse. Die EZB wird die Zinsen voraussichtlich im Juni senken, während sich das Zeitfenster für die Fed mit dem Näherrücken der Wahlen schließt. Ein Festhalten bis Dezember wird immer wahrscheinlicher. Die Aussicht auf eine Differenz von 2 Prozent bei den Leitzinsen in den kommenden sechs Monaten könnte für die EZB ein Problem darstellen. Sollte die Fed die Zinsen länger hochhalten und sich die Zinsdifferenz zu sehr zugunsten des US-Dollars verschieben (bei gleichzeitiger Abwertung des Euro), könnte dies eine importierte Inflation auf dem Weg zum gemeinsamen Markt bedeuten. Eine solche Folge würde bedeuten, dass die EZB von der Fed abhängig wäre. Aber der Euro hält sich derzeit gut. Im Moment sieht es so aus, als würde die EZB unabhängig von den Maßnahmen der Fed vorgehen, aber wenn sich die Umstände ändern und eine völlige Reflationierung der Wirtschaft zum Risiko wird, wäre eine Divergenz der geldpolitischen Maßnahmen eindeutig ein Thema.“
Von Kevin Thozet, Mitglied des Investment-Komitees bei Carmignac