Die Schwellenländer (Emerging Markets, EM) haben sich für ihr exportgetriebenes Wachstum lange Zeit auf Rohstoffzyklen und Billigfertigung verlassen. Doch eine Welle von Unternehmensinnovationen in diesen Ländern bringt Veränderung und beflügelt das Wachstum von innen heraus, denn sie bietet Aktienanlegern hochwertigere, nachhaltigere Chancen in einer Vielzahl von Ländern.
Anleger in EM-Aktien sind jedoch mit Herausforderungen in Ländern wie Indien und Brasilien konfrontiert, die immer noch mit der Eindämmung von COVID-19 zu kämpfen haben. Der MSCI Emerging Markets Index in US-Dollar stieg in diesem Jahr bis einschließlich 30. Juni um 6,5 % und blieb damit hinter den 12,2 % des MSCI World Index zurück. Die Renditen von Wachstumsaktien entwickelten sich schwächer. Doch wir sind der Meinung, dass zusammen mit der Verbesserung der Ertragsaussichten drei starke, durch Innovation beflügelte Langzeittrends Wachstumschancen schaffen, die während der Pandemie und über diese hinaus anhalten werden.
Trend 1: Neue Technologien für aufstrebende Volkswirtschaften
Die Technologien geben den Ton an. Technologie- und internetorientierte Unternehmen machen derzeit 40 % der EM-Benchmark aus. Im Dezember 2007 waren es dagegen nur 11 %. Im Vergleich dazu stellen Technologieaktien 39 % des MSCI USA Index und nur 9 % des MSCI Europe Index. Unserer Ansicht nach hat dieses außerordentliche Wachstum von Schwellenmarkttechnologien gerade erst begonnen.
Bei dieser neuen Welle von EM-Technologien geht es nicht nur um Exporte. Tatsächlich entwickeln viele der EM-Unternehmen die neuen Technologien für die Nutzung in ihrem Heimatland. In vielen Fällen haben sie zudem große Vorteile bei der Eroberung lokaler Marktanteile gegenüber ihren Konkurrenten aus den USA – und das nicht nur in China. Lokale Internetfirmen wachsen schnell und nehmen starke Marktpositionen in Ländern wie Indien, Südkorea oder Russland ein. Das polnische Unternehmen Allegro ist beispielsweise ein Internet-Einkaufszentrum mit 33 % Marktanteil am polnischen E-Commerce und liegt damit deutlich vor seinen US-Konkurrenten wie Amazon.
Diese Entwicklungen erstrecken sich jedoch weit über das Shopping hinaus. Einer der am schnellsten wachsenden Märkte für Finanztechnologie ist Indien. Laut ACI Worldwide wickelte Indien 2020 Echtzeitzahlungen im Wert von 25,5 Milliarden USD ab. Die Banken in Indien nutzen Technologien und Big Data zum Ausbau ihres Geschäfts. Die HDFC Bank beispielsweise hat eine Technologie entwickelt, mit der die Genehmigung von Kundenkrediten nur noch zehn Sekunden in Anspruch nimmt. Ihr Privatkreditgeschäft wuchs im April 2021 um 12 % im Vorjahresvergleich.
In Russland kämpft der Arbeitsmarkt mit einer Humankapitalknappheit. Russische Unternehmen leiden im Durchschnitt unter höherer Mitarbeiterfluktuation und die Arbeitslosenrate liegt bei nur 5,8 %, wodurch schwer Ersatzkräfte zu finden sind (Abbildung).
Die Online-Arbeitssuche wird in Russland noch relativ wenig genutzt – weniger als 30 % der verfügbaren Arbeitsstellen werden in einem Online-Service angezeigt. Und LinkedIn, das global führende Online-Rekrutierungsunternehmen, ist aufgrund von Datenspeicherungsbestimmungen nicht am russischen Markt vertreten.
Das in Russland ansässige Unternehmen HeadHunter hilft Arbeitgebern dabei, dieses demografische Dilemma zu lösen. Arbeitssuchende erhalten einen kostenfreien Service, der ihre Lebensläufe mit offenen Stellen in fünf Ländern abgleicht. Arbeitgeber erhalten Zugang zu all diesen Lebensläufen und können weitere mehrwertschaffende Leistungen in Anspruch nehmen. Mit mehr als doppelt so vielen Stellenangeboten wie der nächste Konkurrent ist HeadHunter das führende Unternehmen bei der Stellensuche in einem Markt, der sehr viel Raum für zukünftiges Wachstum bietet.
Trend 2: Die Pandemie hat das Gesundheitswesen auf unerwartete Weise verändert
Einige der jüngsten Fortschritte in den Schwellenländern sind auf die Pandemie zurückzuführen. Durch die Lockdowns mussten die EM-Unternehmen und Verbraucher ihre gesamten Aktivitäten – vom Shopping bis zu Geschäftsterminen – in den Onlinebereich verlegen, ähnlich wie in den Industrieländern.
Auch das chinesische Gesundheitswesen erlebte 2020 eine pandemiebeschleunigte Wandlung. Innovationen wurden schnell eingeführt und bereiteten den Weg für künftiges Wachstum.
Vor 2019 waren Online-Apotheken in China verboten, daher steckten sie noch in ihren Kinderschuhen, als die Pandemie begann. In einer raschen Kehrtwendung begann China im Jahr 2020 damit, Online-Medikamentenverkäufe aktiv zu fördern, um Engpässe zu beseitigen. Diese Branche ist heute ein 53-Milliarden-USD-Geschäft und laut Credit Suisse soll sie bis 2030 auf über 300 Milliarden USD anwachsen.
Gleichzeitig wurden Online-Gesundheitskonsultationen schnell zur Normalität. Im ersten Quartal 2020 stiegen Online-Arzttermine in China um das 17-fache im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019. Die Pandemie hat die Vorzüge und Effizienzen der Online-Gesundheitsversorgung verdeutlicht. Ferndiagnosen beispielsweise helfen dabei, die Probleme bei der Gesundheitsversorgung für die ländliche Bevölkerung zu lösen, indem Ärzte an zentralen Standorten Patienten behandeln können, die Tausende von Kilometern entfernt sind.
Online-Systeme verringern die Kosten und erlauben eine bessere Beobachtung chronischer Krankheiten, was insgesamt zu besserer Gesundheit führt. Und künstliche Intelligenz unterstützt nun die Entscheidungsfindung in diesem Bereich und sorgt damit für einen weiteren Effizienzschub. Auch andere Länder mit alternden Bevölkerungen und einem rasant steigenden Bedarf im Gesundheitswesen verfügen über einen sehr empfänglichen Markt für diese technologischen Fortschritte. Die Unternehmen in China, die diese Trends ermöglicht haben, sind gut positioniert, um die Verbreitung der Innovationen im Gesundheitswesen nach der Pandemie zu unterstützen.
Trend 3: Grüne Technologie im In- und Ausland
Über 200 Länder haben sich mittlerweile dem Übereinkommen von Paris angeschlossen und Regierungen weltweit führen Richtlinien ein, die die Erderwärmung drosseln sollen. Wir erwarten Ausgaben in Höhe von mehr als 2 Billionen USD für Initiativen zur Senkung der CO2-Emissionen allein in den Schwellenländern in den nächsten 20 Jahren. Unternehmen, die hochmoderne Umweltlösungen entwickeln, können diese an Regierungen verkaufen, die sich zu einem besseren Umweltverhalten verpflichtet haben.
Modernste Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge kommt beispielsweise aus Südkorea und China. Heute entfallen etwa 30 % der Kosten für ein Elektroauto auf die Batterie. Doch der rasante technologische Fortschritt und die verbesserte Wirtschaftlichkeit und Nachfrage haben dazu geführt, dass die Batteriekosten jährlich um fast 10 % fallen. Elektroautos könnten innerhalb von zwei bis drei Jahren genauso viel kosten wie Verbrennungsmotoren. Da viele Länder heute danach streben, ihre Verbrennungsmotoren bereits in fünf bis zehn Jahren zu verbieten, ist dies eine willkommene Nachricht.
Ein weiterer Wachstumsmarkt, der aus der Umweltbewegung heraus entstanden ist, ist die Verwertung von Industrie- und medizinischen Abfällen. Der Bedarf an diesen Dienstleistungen steigt ganz natürlich und die strengeren gesetzlichen Bestimmungen sind ein weiterer unterstützender Faktor. Es werden neue Abfallentsorgungseinrichtungen in Betrieb genommen, doch die Kapazitätsengpässe bleiben und es gibt hohe Eintrittsbarrieren. Im Laufe des Wachstums in den Schwellenländern entstehen Chancen zur Behebung früherer Umweltschäden, da die gesetzlichen Bestimmungen der Industrialisierung grundsätzlich hinterherhinken. Sunny Friend Environmental Technology, ein etabliertes taiwanisches Unternehmen, ist in diesem Geschäftsbereich in Taiwan führend und hat seine Aktivitäten auf China ausgeweitet.
EM-Bewertungen sind wesentlich überzeugender
Obwohl die Unternehmen der Industrieländer auf einigen dieser Märkte eine starke Konkurrenz darstellen, bieten die Wettbewerber aus den Schwellenländern jedoch überzeugendere Vorteile für die Anleger. Viele Schwellenmarktaktien bieten hochwertigeres, nachhaltigeres Wachstum und haben oft günstigere Bewertungen als vergleichbare Unternehmen in den Industrieländern. Obwohl die Analysten für 2021 ein höheres Gewinnwachstum erwarten, werden die Schwellenmarktaktien derzeit mit einem Abschlag von fast 30 % gegenüber ihren Vergleichsunternehmen aus den Industrieländern gehandelt (Abbildung).
Die gedämpfte Stimmung in wichtigen Schwellenländern trübt spannende Wachstumstrends. Der kurzfristige Ausblick sieht zwar problematisch aus, trotzdem ist jetzt ein günstiger Moment, Aktien zu kaufen, die von nachhaltigeren Entwicklungen profitieren dürften. Sobald die pandemiebegründeten Umstände einer nachhaltigeren Erholung weichen, dürften unserer Ansicht nach EM-Unternehmen mit Innovationsvorteil überproportional vom aufgestauten Renditepotenzial profitieren.
Laurent Saltiel ist Chief Investment Officer – Emerging Markets Growth bei AllianceBernstein (AB).
Sergey Davalchenko ist Portfolio Manager – Emerging Markets Growth bei AB.
In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden.