Die meisten Anleger verstehen das Konzept des Risikos intuitiv. Im Grunde beruht es auf einem einfachen Konzept: Anleger erwarten eine Entschädigung für das Eingehen von mehr Risiko. Wenn sich Risiko nicht lohnen würde, würden wir alle unser Vermögen in bar halten und Feierabend machen.
Relatives gegenüber absolutem Risiko in einem unruhigen Markt
Allzu oft sind Anlageverwalter mit dem relativen Risiko beschäftigt, also mit der Überwachung ihrer Performance im Vergleich zu einem nach Marktkapitalisierung gewichteten Index. Das kann im Widerspruch zu dem stehen, was den Anlegern wirklich wichtig ist – die absolute Performance und die Frage, wie gut eine Anlage die langfristigen finanziellen Ziele erreicht.
Besonders heikel wird das Thema in Phasen der Marktvolatilität, wie dem Abschwung von 2022. Angesichts der hartnäckigen Inflation und der Konjunkturabschwächung im vergangenen Jahr gab der MSCI World um 16,0% in Landeswährung nach. Obwohl sich die Börsen im Jahr 2023 deutlich erholt haben, besteht angesichts der konjunkturellen Ungewissheit und der anhaltenden Besorgnis über Inflation und hohe Zinsen die Gefahr einer weiteren Volatilität.
Wenn die Märkte steigen, bereiten sich die Anleger nicht immer auf Turbulenzen vor. Wir sind jedoch der Meinung, dass der beste Zeitpunkt für die Entwicklung eines defensiven Plans für eine Aktienallokation ist, bevor die Volatilität einsetzt.
Ist es möglich, mit weniger Volatilität höhere Erträge zu erzielen?
Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, langfristig wettbewerbsfähige Erträge zu erzielen, ohne extreme Volatilitätsschwankungen in Kauf nehmen zu müssen?
Eine wachsende Zahl von Studien deutet darauf hin, dass Anleger mit einem sorgfältig zusammengestellten Portfolio in der Tat weniger Risiko eingehen und dennoch den Markt langfristig schlagen können, indem sie in Aktien mit geringer Volatilität investieren. Auf diese Weise können Anleger das Vertrauen gewinnen, auch in turbulenten Zeiten in Aktien investiert zu bleiben.
Low-Volatility-Strategien können in verschiedenen Formen auftreten. Wir sind der Meinung, dass eine wirksame defensive Strategie auf den Fundamentaldaten der Unternehmen beruhen und sich auf Unternehmen konzentrieren sollte, die Qualitätsmerkmale (beständige Cashflows und Messgrößen für die Profitabilität wie die Rentabilität des investierten Kapitals), Stabilität (geringe Volatilität der Erträge im Vergleich zum Markt) und eine attraktive Preisgestaltung aufweisen, die sie weniger anfällig für starke Marktschwankungen machen. Wir bezeichnen das als das QSP-Universum. Während Unternehmen in traditionell defensiven Sektoren wie Basiskonsumgüter und Versorger gute Beispiele sind, umfasst das QSP-Universum Unternehmen mit herausragenden Geschäftsmodellen in jedem Wirtschaftssektor, die durch fundamentales Research und eine durchdachte Aktienauswahl aufgedeckt werden können.
Unternehmen, die wir als „Quality Compounders“ bezeichnen, haben beispielsweise erfolgreiche Geschäftsmodelle und beständige Gewinne, die durch gute Kapitalverwaltung und positives ESG-Verhalten unterstützt werden.
Entscheidend ist die Begrenzung der Schwankungen
Unternehmen wie diese können dazu beitragen, dass Low-Volatility-Strategien die Abwärtspartizipation – das heißt die Exposition gegenüber fallenden Märkten – begrenzen, während sie gleichzeitig an den Marktgewinnen partizipieren, allerdings nicht in vollem Umfang. Genauso wie es leichter ist, einen Berg zu erklimmen, wenn man auf halber Höhe beginnt, müssen Aktien, die bei Marktabschwüngen weniger verlieren, weniger Boden gutmachen, wenn sich der Markt erholt.
Dieses Konzept lässt sich veranschaulichen, indem man ein sogenanntes 90/70-Portfolio gegen einen globalen Index von Investment-Grade-Aktien stellt – in diesem Fall den MSCI World Index (Abbildung). Dieses theoretische 90/70-Portfolio wird so genannt, weil es 90% der Marktgewinne in Aufschwungphasen mitnehmen würde, während es in Abschwungphasen nur 70% der Marktverluste hinnehmen müsste.
Anhand der Daten vom 31. März 1986 (Indexeinführung) bis zum 30. Juni 2023 haben wir festgestellt, dass unser hypothetisches 90%/70%-Portfolio in diesem Zeitraum jährliche Erträge erzielen würde, die um 3,1% über denen des MSCI World Index liegen – bei geringerer Volatilität (Abbildung).
Der Haken an der Sache: Um diese langfristigen Mehrerträge zu erzielen, müssten die Anleger akzeptieren, dass sich ein 90%/70%-Portfolio nicht so verhält wie der breite Markt.
Das ist eine leicht zu schluckende Pille, wenn der Markt so stark schwankt wie in diesem Jahr. Schließlich würde die Low-Volatility-Strategie die Anleger in Abschwungphasen nur 70% des Marktrisikos aussetzen. Die eigentliche Bewährungsprobe kommt in Aufschwungphasen, wenn die 90%/70%-Strategie schlechter abschneiden würde als der Markt. Das ist der Preis, den man für langfristige Erträge zahlen muss, die den Markt übertreffen.
Niedrige Volatilität auf dem Prüfstand: Rezessionen
Wie würde sich also eine QSP-Strategie mit geringer Volatilität in Rezessionen schlagen?
Unsere Recherchen deuten darauf hin, dass S&P-500-Aktien, die in das oberste Quintil der QSP-Merkmale eingeteilt wurden, in Abschwungphasen relativ gut abschnitten. So sank beispielsweise das oberste Quintil des S&P 500 auf der Grundlage von Qualität, Stabilität und Preis während der durch das OPEC-Ölembargo ausgelösten Rezession von 1973 bis 1974 um 36,9% – weniger als der Rückgang des S&P 500 um 42,6% (Abbildung). Und während der Rezession von 1980 bis 1982 legten die QSP-Aktien sogar um 8,5% zu, während der Markt um 16,5% fiel.
Neudefinition von Offensive und Defensive bei Aktien
Andererseits könnten Anleger in defensiven Aktien besorgt sein, bei steigenden Märkten, wie der diesjährigen technologiegetriebenen Rallye, ins Hintertreffen zu geraten. Wir glauben jedoch, dass Technologieaktien eine wichtige Rolle in einer Allokation mit geringer Volatilität spielen können.
Viele der qualitativ hochwertigen, profitablen Technologieunternehmen, die im Verborgenen agieren, sind nicht mit den gleichen Risiken konfrontiert wie die allseits bekannten Tech-Titanen. Dazu gehören weniger sichtbare Technologieanbieter und Zahlungsdienstleister, die über nachhaltige Geschäftsmodelle und erhebliche, regelmäßig wiederkehrende Einnahmequellen verfügen. Auch wenn es kontraintuitiv klingen mag, sind wir der Meinung, dass ausgewählte Technologiewerte mit diesen Attributen defensive Eigenschaften aufweisen und gleichzeitig eine stärkere Partizipation am Marktaufschwung bieten. Mit anderen Worten: Die traditionellen Rollen von Offensive und Defensive in der Aktienallokation werden unserer Meinung nach neu definiert.
Strategien mit geringer Volatilität können maßgeschneidert werden
In jedem Markt oder makroökonomischen Umfeld kann eine Low-Volatility-Strategie mit anderen aktiven Strategien kombiniert werden, um die individuelle Risikotoleranz, den Zeithorizont und die Anlageziele eines Anlegers zu berücksichtigen. Und obwohl es nicht einfach ist, ein perfektes 90/70-Portfolio zu konstruieren, besteht die Hauptidee darin, die Anfälligkeit für Marktschwankungen zu verringern, die die langfristigen Erträge schmälern können.
Wir sind davon überzeugt, dass es durch fundamentales Research möglich ist, ein Portfolio aus attraktiv bewerteten Unternehmen mit wichtigen Qualitäts- und Stabilitätsindikatoren zusammenzustellen, das in Aufschwüngen gedeihen und gleichzeitig periodischen Volatilitätsschüben standhalten kann. In Zeiten wie diesen kann ein ruhigeres Fahrwasser genau das sein, was die Anleger brauchen.
Von Kent Hargis - Co-Chief Investment Officer - Strategic Core Equities bei AllianceBernstein