ESG in der Praxis
Praktisch jeder hat schon einmal den Satz „Rettet einen Baum“ gehört. Der Aufruf zum Handeln ist aktueller denn je, da ganze Wälder in alarmierendem Maße verschwinden, oft aufgrund von wirtschaftlichen Interessen. Aktienanleger müssen besser verstehen, wie Unternehmen von der Entwaldung betroffen sind und dagegen vorgehen – und wie sich unterschiedliche Ansätze auf das langfristige Ertragspotenzial auswirken können.
Vom dichten Dschungel des Amazonas bis hin zu malaysischen Palmölplantagen werden weltweit seit Jahrzehnten durch landwirtschaftliche Praktiken wichtige Wälder abgeholzt. Doch jetzt, da das Bewusstsein wächst, werden Unternehmen aller Art – vom E-Commerce bis zur Sportbekleidung – dazu gedrängt, zu zeigen, wie sie gegen die Entwaldung vorgehen, die eine ebenso große Bedrohung für Unternehmen wie für den Planeten darstellt.
Unter Entwaldung versteht man die Umwandlung von Wäldern in nicht forstwirtschaftliche Nutzflächen wie zum Beispiel Landwirtschaft und Straßen. Etwa 31% der Welt sind von Wäldern bedeckt, insgesamt etwa 10 Milliarden Hektar. Vor 35 Jahren waren es noch 11 Milliarden, und das Tempo der Abholzung nimmt zu. Allein im Jahr 2021 ging nach Angaben des World Resources Institute pro Minute der Gegenwert von 10 Fußballfeldern verloren.
Die Entwaldung ist ein menschengemachtes Problem, das jedoch für alle Lebensformen und Lebensgrundlagen problematisch ist. Etwa 25% der Weltbevölkerung sind direkt auf empfindliche Waldökosysteme angewiesen, um zu überleben. Wälder beherbergen 80% der weltweiten biologischen Vielfalt – alle Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in einem bestimmten Ökosystem. Daher sorgen sie für ein unverzichtbares Gleichgewicht von gesundem Boden, sauberem Wasser, sicheren Lebensräumen, Bestäubung von Pflanzen und Barrieren gegen Erosion und Überschwemmungen.
Es gibt nur wenige Regionen, die nicht in irgendeiner Weise betroffen sind. Der Rückgang der Wälder bedroht die meisten Regionen der Erde, wobei die gemäßigten Zonen ebenso gefährdet sind wie die Tropen, wenn auch aus anderen Gründen (Abbildung).
Aggressiver Rohstoffabbau, Zersiedelung und Wanderfeldbau sind beispielsweise die Ursachen für die permanente Entwaldung in tropischen Regionen, insbesondere in Afrika. In Nordamerika, China und Europa sind jedoch vor allem Waldbrände und Forstbetriebe für die Waldschädigung verantwortlich, wenn die Waldökosysteme nicht mehr in der Lage sind, Güter und Dienstleistungen für Mensch und Natur bereitzustellen. Die Waldschädigung ist ein noch größeres Problem als die Entwaldung und ebenso schädlich für die einheimische Bevölkerung, auch wenn sie nicht zwingend zu einem dauerhaften Verlust von Bäumen führt.
Außerdem besteht ein direkter, wenn auch schwacher Zusammenhang zwischen den Wäldern und der Lufthygiene. Bäume absorbieren etwa ein Drittel des gesamten aus fossilen Brennstoffen stammenden CO2. Mit dem Anstieg der Treibhausgasemissionen (THG) wird ein schrumpfender Baumbestand jedoch kaum Schritt halten können. Angesichts dieser Prognose betont der Weltklimarat immer wieder, dass die Erhaltung der Wälder und die Anpflanzung neuer Wälder der Schlüssel zum Erreichen der globalen Ziele ist, die den jährlichen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius begrenzen sollen.
Gleichzeitig wird die Entwaldung weiterhin direkte Auswirkungen auf den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt haben. Diese beiden kritischen Nachhaltigkeitsherausforderungen stehen im Mittelpunkt der Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsfragen (ESG), mit denen sich Aktienanleger unserer Meinung nach befassen sollten, da sie Risiken und Chancen für Unternehmen aller Sektoren mit sich bringen.
Entwaldung als Anlagerisiko
Abgesehen von ihren Auswirkungen auf das Klima und die biologische Vielfalt ist die Entwaldung eng mit der globalen Wirtschaft verflochten. Sowohl ganze Branchen als auch einzelne Unternehmen können zu dem Problem und seinen Lösungen beitragen oder zu den Betroffenen gehören (Abbildung).
Laut OurWorldinData.org ist die Agrarindustrie der mit Abstand größte Auslöser für die Entwaldung, vor allem in den Tropen, da sie für die weltweite Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern verantwortlich ist. An zweiter Stelle stehen die Konsumgüterhersteller. Die Dominanz beider Branchen ist hauptsächlich auf die Beschaffung von nur vier „waldgefährdenden“ Rohstoffen zurückzuführen: Rinder, Soja, Palmöl und Holz.
Die Entwaldung ist nicht nur mit der Landwirtschaft und den Konsumgütern verknüpft. Von Einzelhändlern bis hin zu Versicherern können viele Geschäftsmodelle bis zu einem gewissen Grad damit verbunden sein. Selbst Branchen, die scheinbar nichts mit der Entwaldung zu tun haben, können davon betroffen sein, da sich die Lieferketten häufig mit landwirtschaftlichen Produkten überschneiden. Autositze aus Leder, Baumwolljeans und Salben auf Palmölbasis sind nur einige der vielen subtilen, aber bedeutenden sektorübergreifenden Abhängigkeiten (Abbildung).
Abwägung des Entwaldungsrisikos bei der Aktienauswahl
Die Herausforderung für Anleger besteht darin, zu prüfen, wie gut Unternehmen in verschiedenen Branchen mit den potenziellen Entwaldungsrisiken umgehen und welche Chancen sich daraus für ihr Geschäft ergeben.
So können Unternehmen, die mit Entwaldung in Verbindung gebracht werden, in den Augen von Verbrauchern und Interessengruppen ein Reputationsrisiko eingehen, das die Kundenbindung und die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen kann. Im Zeitalter der sozialen Medien hat sich der Welleneffekt noch weiter und schneller ausgeweitet, da Plattformen dazu neigen, ESG-bezogene Themen bei sehr engagierten und lautstarken Anlegern zu verstärken.
Es gibt auch rechtliche Erwägungen, insbesondere angesichts der strengeren behördlichen Prüfung klimabezogener Finanzinformationen, die nun auch die Auswirkungen der Entwaldung einschließen, und der für 2025 erwarteten Entwaldungs-Verordnung der Europäischen Union. Einige Unternehmen haben hier die Nase vorn. Unilever und Nestlé beispielsweise setzen ausgeklügelte Technologien ein, um das Entwaldungsrisiko von der Quelle bis zum Einkaufswagen zu verfolgen und zu melden. Etwa 90% der Nestlé-Rohstoffe, bei denen ein Entwaldungsrisiko besteht, werden durch Satellitenüberwachung als ab 2020 entwaldungsfrei eingestuft.
Nicht alle Unternehmen sind sich dessen so bewusst. Tatsächlich können viele Geschäftsmodelle, die scheinbar nichts mit Entwaldung zu tun haben, unwissentlich an ihr beteiligt und ebenso anfällig sein. Banken, die Kredite an die Holzindustrie vergeben, unterstützen beispielsweise indirekt die weitverbreitete Abholzung von Bäumen, und Anbieter von Lösungen für die digitale Arbeitseffizienz sind ständige Großverbraucher von Druckerpapier.
Die Identifizierung des Entwaldungsrisikos ist jedoch nur ein Anfang, und die Anleger müssen auch wissen, was ein Unternehmen dagegen zu tun gedenkt. Verfügt das Unternehmen auch über eine Aufforstungsstrategie, um das Risiko zu mindern, und lassen sich die Ergebnisse quantifizieren?
Unternehmen auf Entwaldung abklopfen
Das „Concentrated Global Growth“-Team von AllianceBernstein (AB) hat eine umfassende Entwaldungsanalyse für mehr als 100 Unternehmen innerhalb des investierbaren Universums für das Aktienportfolio durchgeführt. Anhand einer Liste strategischer Fragen (Abbildung) haben wir versucht, Risiken zu identifizieren und das Ausmaß der Aufforstungsmaßnahmen der einzelnen Unternehmen zu erfassen und zu analysieren, falls vorhanden.
Unsere Stichprobe umfasste ein breites Spektrum an Unternehmen: 46 aus den USA, 32 aus Europa und 49 aus Asien. Auch die Größe der Marktkapitalisierung variierte, ebenso wie ihre Stilorientierung (Wachstum, Substanz) und die Branchen und Sektoren, darunter Technologie, Energie, Fertigung, Einzelhandel und Medien.
Wir begannen mit der Durchsicht von Berichten über nachhaltige Investitionen, unabhängig davon, ob sie spezifisch auf ESG ausgerichtet oder Teil von allgemeineren Jahresberichten waren. Relevante Wörter und Formulierungen wie „Baum“, „Wälder“ und „Karton“ wurden markiert. Die Abschnitte, in denen sie vorkamen, wurden genau auf ihren Kontext und ihre Wesentlichkeit untersucht.
Um das Entwaldungsrisiko zu quantifizieren, haben wir versucht, den prozentualen Anteil des Umsatzes eines Unternehmens zu messen, der von den wichtigsten, mit einem Waldrisiko behafteten Rohstoffen abhängt, wie er im Vorjahr ausgewiesen wurde. Bei Unternehmen mit aktiver Aufforstungspolitik haben wir uns die Rohstoffbeschaffung und die Rückverfolgbarkeit genauer angesehen, was unserer Meinung nach ein Hinweis auf das Engagement und die Fortschritte eines Unternehmens ist. Kann also das Unternehmen die Rohstoffe bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, oder zumindest bis zu dem Punkt, an dem es sicherstellen kann, dass sie seinen Richtlinien entsprechen? Ebenso haben wir gefragt, inwieweit die Zulieferer mit ihrer Richtlinie einverstanden sind.
Das Fazit: Die Auswirkungen der Entwaldung werden immer noch unterschätzt
Unsere Analyse ergab ein breites Spektrum an Kenntnissen und Aktionsplänen in Bezug auf Entwaldungsrisiken, die in praktisch allen vertretenen Branchen und Sektoren aufzutreten schienen.
So ist das Entwaldungsrisiko bei Lebensmittelherstellern, deren Lebensgrundlage die landwirtschaftlichen Erzeugnisse sind, natürlich sehr hoch. Doch während ein Online-Händler auf den ersten Blick weniger gefährdet zu sein scheint, ändert sich das Bild, wenn wir die riesigen Flächen sehen, die für die Herstellung von Rohstoffen für seine Produkte und Verpackungen gerodet werden.
Interessanterweise sind Finanzunternehmen nicht so weit vom Entwaldungsrisiko entfernt, wie es den Anschein hat. Unsere Analyse ergab, dass acht Finanzunternehmen durch Assoziierung gefährdet sind, obwohl drei – alle mit Sitz in den USA – nur begrenzte Maßnahmen ergriffen haben, darunter Charles Schwab.
Von den von uns untersuchten Unternehmen verfügte nur etwa die Hälfte über eine Aufforstungspolitik, die ein ganzes Spektrum von Initiativen zur Beseitigung der Schäden umfassen kann. Bei der Wiederaufforstung werden beispielsweise Bäume gepflanzt oder es wird dafür gesorgt, dass sie dort nachwachsen, wo bis vor Kurzem noch Wälder standen; bei der Aufforstung werden Bäume in Gebieten gepflanzt, in denen es lange Zeit keine Wälder mehr gab; und die Waldwiederherstellung hilft geschädigten Wäldern, ihre Struktur, ihre ökologischen Prozesse und ihre biologische Vielfalt wiederzuerlangen.
In der Grundgesamtheit gab es keine Unternehmen, die direkt mit der Agrarindustrie verbunden waren, aber 34% hatten einen tangentialen Bezug. Trotz ihres Engagements fehlte bei etwa 22% der Unternehmen jeglicher Ansatz zur Aufforstung. Dazu gehörten das dänische Biotechnologieunternehmen Genmab und das chinesische multinationale Technologieunternehmen Tencent. Tencent engagiert sich jedoch für eine umweltfreundliche Geschäftstätigkeit und setzt Technologien ein, um die nachhaltige Nutzung und den Schutz der natürlichen Ressourcen zu fördern. So wendet das Unternehmen beispielsweise Künstliche Intelligenz und Cloud-Computing-Technologien auf naturbasierte Lösungen an, um Digitalisierungs- und Effizienzprobleme zu lösen, die im Zuge des Umweltschutzes auftreten. Und Genmab erhält von Ethos ESG ein A-Rating in den Kategorien Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung sowie Gesundheit von Kindern.
American Tower, ein US-amerikanischer Immobilienfonds, und TJX Companies, ein US-amerikanischer Einzelhandelskonzern, haben beide ein hohes Entwaldungsrisiko, verfügen aber über wirksame Programme, um dieses Risiko zu verringern. American Tower, das Land für den Bau und die Verpachtung von drahtloser Kommunikationsinfrastruktur rodet, hat sich verpflichtet, jeden Baum, den es entfernt, durch 50 Bäume in den US-Hochebenen und in Kalifornien zu ersetzen. Im Rahmen unserer Untersuchungen haben wir einen Rahmen entwickelt, der Anlegern einen guten Ausgangspunkt für die Bewertung des Entwaldungsrisikos und der Aufforstungspolitik eines Unternehmens bietet (Abbildung) und sie bei ihren Bemühungen um ein Engagement unterstützen kann.
Auch die Technologiebranche kann für das Entwaldungsrisiko anfällig sein, obwohl wir festgestellt haben, dass die meisten Technologieunternehmen eine ambitionierte Strategie verfolgen. Das US-amerikanische Unternehmen Verisk Analytics beispielsweise finanziert umfangreiche Aufforstungsmaßnahmen in Brasilien, während das französische Unternehmen Capgemini der LEAF-Koalition (Lowering Emissions by Accelerating Forestation) beigetreten ist, deren Ziel es ist, die Entwaldung zu stoppen, indem sie den Schutz tropischer Wälder in großem Umfang finanziert. Das japanische Unternehmen Murata Manufacturing unterhält ein mit Personal ausgestattetes und geprüftes Forstprogramm zum Schutz der Wälder in bebauten Gebieten im ganzen Land, insbesondere in der Nähe seiner Werke.
Einige wenige Unternehmen, wie Mastercard und SAP, ergreifen präventiv Maßnahmen zur Aufforstung, obwohl sie kaum von Entwaldung betroffen sind. Die „Priceless Planet Coalition“ von Mastercard beispielsweise umfasst fünfzehn Projekte zur Wiederaufforstung auf sechs Kontinenten; SAP, das deutsche Softwareunternehmen, hat sich verpflichtet, bis 2025 fünf Millionen Bäume zu pflanzen.
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Unternehmen erst allmählich auf das globale Problem der Entwaldung aufmerksam werden. Daher halten wir es für wichtig, dieses Thema in die allgemeinen ESG-Forschungs- und Engagementprozesse einzubeziehen. Je mehr Unternehmen entdecken, dass die Entwaldung für ihre Geschäftstätigkeit, ihre Anleger und andere Interessengruppen von Bedeutung ist, desto stärker werden sie ihr Engagement quantifizieren und den Erfolg ihrer Maßnahmen nachweisen.
Entwaldung im Rahmen der ESG-Gesamtbewertung
Vom amerikanischen Südwesten bis zur Nordsee schrillt der Alarm bezüglich der globalen Erwärmung im Jahr 2023 besonders laut. Rekordüberschwemmungen, verheerende Brände und aufeinanderfolgende Hitzewellen erinnern uns daran, dass der Klimawandel real ist und sich verschärft, ebenso wie die physischen Risiken und Chancen für Branchen und Unternehmen. Umso mehr sollten umsichtige Aktienanleger diese wichtigen Themen in ihr Fundamentalresearch und ihre Aktienauswahl einbeziehen, um herauszufinden, wie sich die potenziellen Auswirkungen der Entwaldung auf die langfristigen Gewinnaussichten eines Unternehmens auswirken können.
Die ESG-Analyse entwickelt sich rasch weiter. Neue Methoden zur Bewertung der allgegenwärtigen Risiken und Chancen des Klimawandels werden ständig weiterentwickelt und gewinnen an Bedeutung. Die Entwaldung ist ein weiterer wichtiger Faktor neben anderen wichtigen Messgrößen wie dem CO2-Fußabdruck, dem CO2-Handabdruck und der Analyse von Klimaszenarien.
Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die Bedrohung durch die Entwaldung und die Priorität, die sie bei den Unternehmen genießt, weit auseinanderklaffen. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass sich dieses Verhalten ändern wird, wenn mehr Unternehmen strengere Aufforstungsrichtlinien einführen und ihre Risiken und Chancen, die sich aus diesem Thema ergeben, messen und steuern. Engagierten Anlegern kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, das Bewusstsein der Managementteams dafür zu schärfen, dass ein strategischer Ansatz in Bezug auf die Entwaldung gut für den Planeten, die Profitabilität und die langfristigen Erträge von Investitionen ist.
Von Dev Chakrabarti, Chief Investment Officer - Concentrated Global Growth & Sara Rosner, Director of Environmental Research and Engagement - Responsibility bei AllianceBernstein