Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt sich rasant weiter — scheinbar so schnell, wie ChatGPT eine Nutzerfrage beantwortet. Indem sie rasch in jeden Winkel der Geschäftswelt vordringt, hilft KI, den Betrieb zu rationalisieren, die Kundenerfahrung zu verbessern und mehr datengestützte Entscheidungen zu treffen.
Der Einsatz von KI in der Investmentbranche birgt somit das Potenzial, unsere Rollen zu verändern, indem sie fundiertere Anlageentscheidungen, einen besseren Portfolioaufbau, ein besseres Risikomanagement und fortschrittlichere Betriebsabläufe ermöglicht. Da KI die Zukunft auch weiterhin neu gestalten wird, hat sich Andrew Chin, Head of Investment Solutions and Sciences bei AB, die Zeit genommen, um auf fünf Fragen für Vermögensverwalter und Investoren einzugehen.
Frage: AI ist eine transformative Technologie, die sich allerdings mit der Zeit dank neuer Anwendungen und Einsatzgebiete noch weiterentwickeln wird. Die Einführung erfolgt dementsprechend nicht über Nacht. Welche vielversprechende Entwicklung zeichnet sich aktuell im KI-Bereich ab?
Andrew Chin, Head of Investment Solutions and Sciences bei AB: Zurzeit ist die natürliche Sprachverarbeitung (Natural Language Processing, NLP), die sich mit dem Verständnis und der Auswertung von Text- und Sprachdaten beschäftigt, die am tiefsten hängende Frucht im Bereich der KI. Unsere Branche wird mit einer riesigen Menge an eingehenden Daten überschwemmt, die entweder textbasiert sind oder in Text umgewandelt werden können. So lassen sich beispielsweise Audio- und Videoquellen in Text umwandeln. Bei vielen unserer Aufgaben — ob bei der Analyse einzelner Wertpapiere, beim Verfeinern einer taktischen Vermögensallokation oder im Bestreben, die Bedürfnisse unserer Kunden besser zu verstehen — geht es darum, diese Daten zusammenzuführen, um daraus Einblicke zu gewinnen und fundierte Entscheidungen zu treffen.
NLP eignet sich perfekt für diese Aufgaben, denn sie ermöglicht es, sehr große Datenmengen aufzunehmen und zusammenzuführen, um dann Handlungen vorzuschlagen.
Anlageexperten sammeln und durchforsten Daten aus den verschiedensten Quellen, um Erkenntnisse zu gewinnen. Produktbewertungen und Kundenrezensionen auf Websites können zum Beispiel Hinweise auf neue Chancen und Herausforderungen eines Unternehmens liefern. Allerdings ist es nicht nur menschlich unmöglich, Millionen von Bewertungen zu lesen, sondern auch äußerst schwierig, unter all diesen Daten bestimmte Themen zu erkennen und daraus verwertbare Erkenntnisse abzuleiten. Bei solchen Aufgaben können sich NLP-basierte Tools als extrem leistungsstark erweisen. Man kann ihnen beibringen, Daten effizienter und effektiver zu analysieren, sie decken erheblich größere Datenmengen ab, ihnen unterlaufen weniger Rechenfehler und sie machen nie Pause!
Frage: Ein Filmzitat lautet: „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“. Können Sie uns zwei Herausforderungen nennen, die KI-Praktiker vielleicht nicht genügend beachten?
Andrew Chin: Es gibt mehrere Herausforderungen, die schon lang und breit diskutiert wurden. Hierzu gehören sogenannte Halluzinationen — Fälle, in denen ein KI-Modell falsche Informationen als eine Tatsache darstellt. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Sicherheitsfragen, mit denen sich Unternehmen beschäftigen müssen. Ich möchte aber auf ein paar andere Herausforderungen eingehen, die wichtig für Finanzanwendungen sind, aber weniger Aufmerksamkeit erhalten haben.
Die größte Herausforderung ist aus meiner Sicht das allgemein niedrige Signal-Rausch-Verhältnis im Finanzsektor. Machine-Learning-Tools sind extrem effektiv, wenn die Probleme genau erfasst sind, und es gibt bekannte Funktionen und Modelle, die trainiert werden können, damit sie eine hohe Genauigkeit erreichen. Die Welt des Investments ist jedoch anders. Ein Beispiel: Bei Prognosen der Kursentwicklung von Aktien sind ungefähr 40% bis 50% der Volatilität titelspezifisch, d. h. es gibt wahrscheinlich keine Merkmale, die eine bestimmte Entwicklung erklären können. Aufgrund dessen ist es für Machine Learning-Modelle sehr schwer, eine hohe Prognosegenauigkeit zu erreichen.
Eine weitere, noch zu wenig beachtete Herausforderung ist die Feineinstellung. Im Umgang mit KI haben wir herausgefunden, dass Modelle verfeinert werden müssen, um in bestimmten Bereichen effektiv zu sein. Ob Investitionen, Vertrieb oder Betrieb: Jeder Bereich hat seine eigenen Parameter, Beziehungen und Besonderheiten. Nehmen Sie beispielsweise Kundenbindung und Compliance: Die Art der Herausforderungen und die notwendige Genauigkeit dieser Modelle unterscheiden sich stark. Im Fall von Aufgaben im Bereich der Compliance können Fehler und Irrtümer hohe Kosten und Reputationsschäden hervorrufen; daher dauern die Feineinstellungen in diesen Anwendungsfällen wahrscheinlich länger.
Selbst innerhalb des Investmentbereichs gibt es große Unterschiede in der Art und Weise, wie wir einzelne Aktien, Anleihen oder Real Estate Investment Trusts bewerten. Daher ist es wichtig, das Modell im Hinblick auf diese Anlagetypen und ihre spezifischen Merkmale und Verhaltensweisen zu verfeinern. Diese Feineinstellung kann den Unterschied ausmachen zwischen einem effektiven Anlagemodell und einem, das ineffektive Ergebnisse oder Empfehlungen für Entscheidungen liefert. Da sowohl Vermögensverwalter als auch Investoren bemüht sind, bessere Ergebnisse zu liefern, müssen wir hier mit Bedacht vorgehen.
Frage: Es ist offensichtlich, dass es viele Einsatzbereiche für KI im Investmentbereich gibt. Welche geschäftlichen Einsatzmöglichkeiten gibt es neben der eigentlichen Anlagepraxis?
Andrew Chin: Ich kann Ihnen einige Beispiele aus unseren eigenen Erfahrungen nennen. So haben wir KI in den Bereichen Vertrieb und operative Tätigkeiten eingeführt. Im Vertrieb nutzten wir KI, um künftige Ströme innerhalb der Branche zu erkennen und so besser festlegen zu können, welche Bereiche für unsere Vertriebstätigkeiten prioritär sind. Diese Modelle sind bei weitem nicht perfekt, aber wir haben festgestellt, dass sie in der Praxis nützliche Perspektiven liefern, die den Entscheidungsprozess unserer Vertriebsteams bereichern.
Im Bereich der operativen Tätigkeiten, wie z. B. der Compliance- oder Risikomanagementabteilung, können KI-Tools sehr große externe und interne Dokumente wie Emissionsprospekte, Marketingmaterialien oder Fondsprospekte überprüfen. Anhand dieser Überprüfung erkennen sie potenzielle Risiken und empfehlen Maßnahmen. Da Vermögensverwaltungsfirmen mit einer großen Menge an textbasierten Dokumenten hantieren, kann die NLP ein mächtiges Instrument sein, das Mitarbeitende in die Lage versetzt, in diversen Arbeitsbereichen wirksamer und effizienter zu werden.
Frage: Was sollten Anlagegesellschaften beim Einsatz von Data Science und KI-Expertise in ihren Unternehmen berücksichtigen?
Andrew Chin: Unternehmen sollten den Einsatz von Data Science vor allem an Kontroversen über Investitionen, betrieblichen Ineffizienzen oder Fragen ausrichten. Unser Ansatz lautet zusammengefasst: „Data Science sollte immer mit einer Frage beginnen“. Obwohl die neuen KI-, Machine Learning- und NLP-Tools leistungsstarke Instrumente sind, eignen sie sich bei allem Glamour womöglich nicht für alle Aufgaben — es ist wichtig sicherzustellen, dass die zugrundeliegenden Fragen oder Projekte mit modernen Techniken angegangen werden. Dieser Ansatz würde Unternehmen außerdem helfen, praktische Lösungen zu finden, während sie lernen, die neuen Instrumente einzuführen und anzuwenden.
Von entscheidender Bedeutung ist auch Fachkompetenz, denn die Anpassung der breit gefächerten KI-Tools an die Anforderungen der Welt des Investments erfordert sowohl ein solides Verständnis der geschäftlichen Herausforderungen als auch technische Fähigkeiten. Es ist entscheidend, dass Mitarbeitende mit besonderen Fähigkeiten im jeweiligen Bereich — z. B. Anlagen, Betrieb oder Vertrieb — Modellen beibringen, wie sie sich in bestimmten Anwendungsfällen verhalten, indem sie diese umgehend bearbeiten oder Feineinstellungen vornehmen. Unternehmen und Modelle können bei der KI-Einführung kläglich scheitern, wenn die notwendigen finanziellen und aufgabenspezifischen Fähigkeiten nicht für jede dieser drei entscheidenden Aufgabengebiete erkannt und angewandt werden.
Frage: Lassen Sie uns abschließend einen längerfristigen Ausblick auf die KI-Welt wagen: Wie wird sich das Verhältnis von KI und Unternehmen auf lange Sicht Ihrer Ansicht nach entwickeln?
Andrew Chin: Die Unternehmen werden ihre Mitarbeitenden im Umgang mit den neuen Tools schulen, und zwar nicht nur die internen Informatiker und Investmenttechnologie-Teams, sondern alle. Wenn Mitarbeitende diese Tools nutzen, um ihre jeweilige Rolle aufzuwerten, müssen sie auch wissen, wie sie sie richtig einsetzen.
Sie sollten also verstehen, wie sie zu schnelleren und besseren Entscheidungen gelangen und wie sie sich mithilfe von menschlichen Erkenntnissen und menschlichem Verstand über die automatisierten Algorithmen hinwegsetzen. KI und Machine Learning-Tools sind nicht perfekt. Daher ist es wichtig, genau zu wissen, wo ihre Schwächen liegen und wie Mitarbeitende diese Tools effektiver einsetzen können. Wir werden gemeinsam lernen, dass man den neuen Tools nicht einfach bedingungslos vertrauen kann — wir müssen wissen, wie sie zu ihren Entscheidungen gelangen und wann wir eingreifen müssen.
In Verbindung mit diesem Trend erwarten wir auch Verbesserungen bei der Interpretierbarkeit. Menschen werden immer besser verstehen, wie diese Tools entscheiden. Alles, was unter den Begriff „Interpretierbarkeit“ fällt, wird als Gebiet genauer untersucht werden — wodurch wir immer mehr Einblicke in dieses bisher intransparente Feld gewinnen werden. Diese Entwicklungskurve sollte deutlich nach oben verlaufen, damit KI größere Akzeptanz erfährt. Wir erwarten daher, dass unsere Branche sich auch weiterhin intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
Die Comicfigur Iron Man kann hier als Inspiration dienen. Damit meinen wir das erfolgreiche Zusammenspiel zwischen einem technisch versierten menschlichen Experten auf einem bestimmten Gebiet, zum Beispiel der Finanzanalyse, und einem KI-gestützten Assistenten, der eine massenhaft eingehenden Daten aufnehmen und analysieren kann und Maßnahmen vorschlägt. Wie in den Filmen können Menschen sich je nach den Umständen und ihren eigenen Kompetenzen und Erkenntnissen über die Empfehlung hinwegsetzen. Aus unserer Sicht stellt dieser „eiserne Mensch“ mit erhöhter Intelligenz, der bessere und schnellere Synthesen liefern kann, das Erfolgsrezept für die Zukunft der KI.
Von Andrew Y. Chin, Head—Investment Solutions and Sciences bei AllianceBernstein