In ihrer aktuellen Sitzung bestätigten die Währungshüter der EZB ihre bisherige Haltung: Sie werden einen restriktiven Kurs bei der Geldpolitik fortsetzen. Gleichzeitig halten sie an ihrem datenabhängigen Ansatz für zukünftige geldpolitische Entscheidungen fest. Auffällig ist auch, dass der EZB-Rat bei seinem Treffen keine Zinssenkungen diskutierte. Das zeigt, dass das Gremium gerade erst damit begonnen hat, eine "Rücknahme" ihrer restriktiven Haltung zu erwägen. Meiner Meinung nach spielen sie hier mit Worten: Die EZB kann ihre restriktive Haltung nicht "zurücknehmen", ohne die Zinsen zu senken.
EZB könnte über Inflationsziel hinausschießen
Dennoch legt die Prognose für März nahe, dass der Zinssenkungszyklus schnell näher rückt. Die makroökonomischen Projektionen für März haben die Kerninflation ebenfalls nach unten korrigiert. Es wird nun erwartet, dass diese bis 2025 auf 2,1 Prozent und bis 2026 auf 2 Prozent zurückgeht. Auch wenn die EZB gleichzeitig betonte, dass der inländische Preisdruck in den Euroländern hoch bleibt, teilweise aufgrund des starken Wachstums der Löhne. Obwohl das reale BIP-Wachstum für 2024 weiter auf 0,6 Prozent nach unten korrigiert wurde, ist zu erwarten, dass sich die Konjunktur über den Prognosezeitraum hinweg stabilisiert, wenn die inländische Nachfrage wieder anzieht. Insgesamt haben die aktualisierten Prognosen klar dovische Implikationen: Basierend auf dem aktuellen Marktniveau der Zinssätze erwarten die Währungshüter, dass die Kerninflation mittelfristig ihren Zielwert erreicht. Oder anders gesagt: Bei den aktuellen Zinssätzen könnte die Inflation mittelfristig sogar über ihr Ziel hinausschießen. Dennoch lässt die EZB vorsichtig walten. Insbesondere bei den Lohn- und Dienstleistungsgetriebenen Preissteigerungen müssen erst klare Anzeichen für Entspannung sichtbar sein.
Vier Zinssenkungen um insgesamt 100 Basispunkte sind wahrscheinlich
Sowohl die heutige Sitzung als auch die Projektionen stärken das Vertrauen in eine Zinssenkung im Juni. Tatsächlich bestätigte Präsidentin Christine Lagarde implizit die Botschaft, die bereits in den vergangenen Wochen erkennbar war: Juni ist der Monat der Wahl. Erstens weist der Datenkalender in diese Richtung: Mit nur einer weiteren Veröffentlichung von Inflationsdaten vor dem Treffen im April, aber drei weiteren bis Juni, bleibt genügend Zeit, um ausreichend zu belegen, dass die Inflation im Dienstleitungssektor weniger hartnäckig ist, als zunächst befürchtet. Auch die Lohndaten für das erste Quartal des Jahres, auf die die meisten hawkisch eingestellten Mitglieder unbedingt warten wollen, werden ebenfalls vor dem Junitreffen verfügbar sein.
Zweitens ist für Juni auch ein Projektions-Meeting angesetzt, bei dem weitere nach unten korrigierte Inflationswerte erwartet werden können. Bereits heute zeigen die Schätzungen, dass die Kerninflation mittelfristig ihr Ziel erreicht. In der Juniprognose für 2025 und 2026 wird sie wahrscheinlich etwas darunter, aber immer noch nahe bei 2 Prozent liegen, also genau dort, wo sie die EZB haben möchte.
Und als dritter Punkt: Präsidentin Lagarde würdigte, dass sich der Markt im Vergleich zum Zeitpunkt nach dem Januartreffen vernünftiger bewegt hat - das lässt sich durchaus als eine Form impliziter Unterstützung werten. Der Markt bewertet derzeit die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung im Juni mit 79 Prozent sowie für Zinssenkungen von insgesamt 100 Basispunkten im gesamten Jahr 2024. Dies stimmt auch mit unserer Prognose überein. Ich erwarte, dass die EZB im Juni eine Senkung vornimmt, aber den Juli auslässt. Damit würden sich die Währungshüter frühzeitig Handlungsspielraum für weitere Projektions-Meetings im Zyklus offenhalten. Weitere drei Zinssenkungen um jeweils 25 Basispunkte im späteren Verlauf des Jahres halte ich für am wahrscheinlichsten.
Von Sandra Rhouma, European Economist – Fixed Income bei AllianceBernstein