In letzter Zeit schienen die Anleger von den endlosen Schlagzeilen über die Entwicklung der Geldpolitik regelrecht gebannt zu sein. Fiskalpolitische Beschlüsse haben jedoch auf lange Sicht weitreichende Folgen für das Wachstum und die Fundamentaldaten der Wirtschaftsräume in aller Welt. In diesem Zusammenhang ringen viele Regionen immer noch mit den Herausforderungen durch Defizite und Schulden.
Anhaltendes US-Defizit behindert Wachstum
Die US-Wirtschaft hat in den letzten Jahren mit ihrer herausragenden Entwicklung alle Erwartungen übertroffen. Die Triebkraft war ungewöhnlicherweise die Fiskalpolitik. Ein typisches Merkmal von Konjunkturzyklen sind hohe Haushaltsdefizite in wirtschaftlich schlechten Zeiten, die entstehen, weil die Regierungen die Nachfrage ankurbeln wollen, um schlimmere Folgen als eine Rezession zu vermeiden. Nach der Rezession wird die Fiskalpolitik zurückgeschraubt, da die Steuerannahmen steigen und die Soforthilfeprogramme auslaufen.
Der aktuelle Zyklus verlief in den USA bisher etwas anders.
Die demografische Entwicklung erfordert höhere Ausgaben für Sozialleistungen, und die höheren Investitionen in die Infrastruktur und andere pandemiebedingte Prioritäten führten dazu, dass die staatlichen Gesamtausgaben über ihren Niveaus von vor der Pandemie blieben. Gleichzeitig sind die Einnahmen aufgrund früherer Steuersenkungen zurückgegangen. Das resultierende Defizit von rund 6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (s. Abbildung) scheint laut den Prognosen des Congressional Budget Office (CBO) in den nächsten zehn Jahren Bestand zu haben. Das Defizit ist demnach höher als man außer in Kriegs- oder Rezessionszeiten erwarten würde.
Stützt das Defizit das Wachstum? Ja und nein.
Was die Wachstumsraten beeinflusst, ist eine schrittweise Veränderung des Defizits; folglich hätte ein Defizit, das in den kommenden Jahren stabil bleibt, keinen wesentlichen Einfluss auf das BIP-Wachstum. Dennoch spielte der Umstand, dass die Staatsausgaben nicht zurückgefahren wurden, eine Rolle für die erwartete sanfte Landung. Die Landung wäre wohl weniger sanft gewesen und hätte vielleicht sogar eine Rezession bedeutet, wenn die Fiskalpolitik so stark gestrafft worden wäre, wie dies nach einer Rezession normalerweise der Fall ist. Das durchschnittliche Haushaltsdefizit der USA liegt in „normalen“ Zeiten bei rund 3,5% des BIP, also ungefähr 2,5% unter dem aktuellen Stand, und hätte das Wachstum stärker gebremst.
Höhere Defizite haben zwar womöglich dazu beigetragen, das Wachstum zu erhalten, aber sie haben einen Nachteil: steigende Schulden. Das Verhältnis zwischen der US-Staatsverschuldung und dem BIP liegt inzwischen bei über 100% und dürfte in den kommenden Jahren weiter ansteigen, solange es keine wesentliche Veränderung der Fiskalpolitik gibt. Die wird aus unserer Sicht kurzfristig zwar keine Krise verursachen, aber die Kombination aus steigenden Schulden und steigenden Zinsen wird die Schuldendienstquote – die Kosten der Tilgung bestehender Schulden – des Staates in die Höhe treiben. Dieses Geld kann dann nicht mehr für produktivere Investitionen verwendet werden, und durch die fehlenden Mittel könnte der fiskalpolitische Spielraum begrenzt sein, wenn die US-Wirtschaft das nächste Mal ins Straucheln gerät.
Flexible fiskalpolitische Disziplin: Europas neue Normalität
Die europäische Fiskalpolitik half, den durch mehrere aufeinanderfolgende Schocks ausgelösten Wirtschaftsabschwung zu begrenzen, und führte zwischen 2020 und 2022 zu einem Anstieg des Haushaltsdefizits auf durchschnittlich 5,3%. Es bestehen beträchtliche Unterschiede: Italien und Frankreich weisen weiterhin hohe Defizite auf, Spanien und Deutschland sind hingegen in einer nachhaltigeren Position. Die Gesamtschuldenquote der Eurozone, die vor der Pandemie rückläufig war, ist auf 88% gestiegen und wird Erwartungen zufolge hoch bleiben.
Gegenwärtig übertreffen sowohl das Haushaltsdefizit als auch die Schuldenquoten die im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorgesehenen Obergrenzen von 3% bzw. 60%. Aber der fiskalische Impuls – die Auswirkungen der Staatsausgaben und Steuerpolitiken auf das Wirtschaftswachstum – war 2023 negativ und dürfte dies auch 2024 bleiben, da die Staaten weiterhin nach und nach alle Unterstützungen im Energiebereich streichen. Außerdem ist der SWP, der 2020 ausgesetzt wurde, damit die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Obergrenze der Neuverschuldung abweichen können, 2024 wieder in Kraft.
Eine der Folgen der Reaktivierung des SWP ist, dass Länder, die beabsichtigen, 2025 die Obergrenze von 3% zu überschreiten, ein sogenanntes „Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ (VÜD) riskieren, das die kurzfristige Volatilität anheizen könnte. Der SWP soll aber die Haushaltsdisziplin fördern, und Länder, die ein Defizitverfahren auslösen, sind gezwungen, größere fiskalpolitische Anpassungen umzusetzen. Diese Anpassungen werden jedoch weniger problematisch sein als im Rahmen früherer Fassungen des SWP; sie berücksichtigen landesspezifische Merkmale und erlauben somit mehr Flexibilität auf dem Weg zur Erfüllung der Haushaltsziele.
Letzten Endes ist das Hauptziel des neuen SWP die Haushaltskonsolidierung. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass das Defizit 2025 auf 2,8% des BIP sinkt; in Großbritannien könnte sich ein ähnlicher Trend ergeben (s. Abbildung), auch wenn das Jahr aufgrund der anstehenden Wahlen schwierig werden könnte. Wie in der EU wird auch in Großbritannien der fiskalische Impuls negativ werden und über mehrere Jahre hinweg im negativen Bereich bleiben. Die Regierung muss sich ebenfalls an Haushaltsregeln halten und die Schulden- und Defizitquote innerhalb von fünf Jahren senken, wobei erwartet wird, dass beide Ziele erreicht werden.
Alles in allem scheinen die europäischen Volkswirtschaften zu einer neuen Normalität übergegangen zu sein, die sich durch flexible fiskalpolitische Disziplin auszeichnet.
Uneinheitliche fiskalpolitische Fortschritte in den Schwellenländern
Die Hauptthemen in den Schwellenländern waren in den letzten Jahren die Überschuldung, verzögerte staatliche Insolvenzverfahren und die Schuldenstreuung. Die Gesamtverschuldung der Staaten, ausgenommen China, wird sich Erwartungen zufolge im Bereich der aktuellen Stände von knapp 60% des BIP stabilisieren, d. h. rund 7% über dem Vorpandemieniveau. Afrika, Asien und Europa hatten Mühe, nach der Pandemie wieder zu einer soliden Fiskalpolitik zurückzukehren, während die Staaten in Lateinamerika und im Nahen Osten relativ erfolgreich neue Haushaltspuffer aufbauen konnten.
Die fiskalpolitischen Fortschritte Lateinamerikas spiegeln eine umsichtige Haushaltspolitik wieder, aber auch das starke Wirtschaftswachstum, das zum Teil auf den Amerikanischen Exzeptionalismus zurückgeht. Im Nahen Osten verbesserte sich die Schuldendynamik vor allem dank der gestiegenen Ölpreise. Volkswirtschaften, die stärker im US-Konjunkturzyklus integriert sind (oder einen hohen Teil ihrer Einnahmen mit Erdöl erwirtschaften), waren relativ erfolgreich bei der Schuldenkonsolidierung; stärkere Verbindungen mit Europa und China zahlten sich in diesem Konjunkturzyklus hingegen weniger aus.
Für die steigende Verschuldung Asiens war vor allem China verantwortlich. Betrachtet man die Staatsverschuldung in ihrer Gesamtheit einschließlich der Tätigkeiten von Finanzierungsvehikeln von Lokalregierungen, staatlich gelenkten Fonds und Bau-Sonderfonds, ergibt sich ein Anstieg der Verschuldung auf ungefähr 120% des BIP gegenüber rund 50% vor zehn Jahren. Laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds werden die chinesischen Staatsschulden in absehbarer Zeit schneller steigen als diejenigen der USA.
Der Verzicht der beiden größten Volkswirtschaften der Welt auf fiskalpolitische Einschränkungen könnte die Abwärtsrisiken für das globale BIP-Wachstum begrenzen, aber ebenso zum „Crowding-out“ der Finanzierung der Schwellenländer führen. Wenn weniger Finanzierungsquellen bereitstehen und gleichzeitig der Finanzierungsbedarf steigt, wären sogar noch mehr Haushaltseinsparungen erforderlich (s. Abbildung).
Was könnte helfen, den Druck zu mindern? Es ist wichtig, bei Staatsbankrotten rasch Abhilfe zu schaffen, und auch die jüngsten finanziellen Unterstützungsmaßnahmen sowie die politischen Signale von multilateralen Organisationen könnten hilfreich sein. Die Berücksichtigung von auf Staaten bezogenen Faktoren für Schuldenumstrukturierungen und der erneute Marktzugang für Frontier-Märkte könnten die mittelfristigen Finanzierungskosten senken, falls die Ziele erreicht werden.
Von Eric Winograd, Director – Developed Market Economic Research bei AllianceBernstein