Viele globale Aktienanleger haben in der Vergangenheit nur begrenzte Positionen in den Ländern des Nahen Ostens gehalten, die sich in Schwellenländer-Benchmarks kaum niedergeschlagen haben. Durch den beschleunigten Wandel in der Region ergeben sich nun aber neue Anlagechancen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Seit dem Ende der Corona-Pandemie wurden durch die steigenden Ölpreise enorme Kapitalströme in den Nahen Osten gelenkt. Der Anstieg von weniger als 20 US-Dollar pro Barrel im Jahr 2020 auf einen Höchststand von über 120 US-Dollar pro Barrel im Jahr 2022 hat die Erdöleinnahmen in die Höhe getrieben. Zugleich ist aber auch die Frage aufgekommen, wie lange sich die Region noch auf fossile Brennstoffe als Haupteinnahmequelle stützen kann.
Tatsächlich werden im Nahen Osten bereits Schritte unternommen, um diese Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen zu überwinden. Unter der Führung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hat ein Wandel eingesetzt, der strategische Initiativen und investorenfreundliche Reformen umfasst. Für Aktienanleger bieten sich hier potenziell beträchtliche Chancen.
Saudi-Arabien diversifiziert seine Wirtschaft
Während 2014 noch lediglich 12,2% der Steuereinnahmen Saudi-Arabiens auf Aktivitäten außerhalb des Ölsektors zurückgingen, belief sich dieser Anteil 2023 schon auf 37% (Abbildung). Darüber hinaus nahmen auch die Exporte in Verbindung mit jenen Aktivitäten sowie ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt zu.
Zudem investiert Saudi-Arabien seit etwa zehn Jahren im großen Stil in künftige Entwicklungen und hat mittlerweile 1,2 Billionen US-Dollar zu diesem Zweck mobilisiert. Hierin zeigt sich deutlich die Absicht der führenden Entscheidungsträger, die Wirtschaft für eine Zeit umzugestalten, in der sie sich nicht länger auf Erdöl stützen kann.
2022 verzeichnete Saudi-Arabien ein Wirtschaftswachstum von 8,7% gegenüber dem Vorjahr und übertraf damit alle anderen G20-Staaten. Dies umfasst auch ein Wachstum von 4,8% im Jahresvergleich außerhalb des Ölsektors, das in erster Linie auf den Groß- und Einzelhandel, den Tourismus, den Technologiesektor und das Baugewerbe zurückzuführen ist (Abbildung).
Im Rahmen der „Saudi Vision 2030“ – eines umfassenden Plans zur Diversifizierung der Wirtschaft und zur Förderung des Wachstums im Privatsektor – hat Saudi-Arabien mit Initiativen wie „The Line“ und „The Red Sea Project“ einen tiefgreifenden Wandel angestoßen. Bei „The Line“ handelt es sich um eine geplante Megastadt, die bandförmig angelegt werden soll und die sich gemäß der ursprünglichen Pläne über einen 450 Kilometer langen Abschnitt der nordwestlichen Küste Saudi-Arabiens erstrecken sollte. „The Red Sea Project“ ist ein Investitionsprojekt im Bereich des technologiegestützten Tourismus mit einem Portfolio von 50 Resorts.
Die Öffnung des Unterhaltungs- und Kultursektors hat bereits zu einem Anstieg der Reiseausgaben und einer Zunahme des Tourismus geführt. 2022 verzeichnete Saudi-Arabien insgesamt 77,8 Millionen inländische Touristen, nachdem sich die Zahl im Jahr 2015 noch auf 46,4 Millionen belaufen hatte.
Vor dem Hintergrund der Energiewende finden bedeutende Investitionen in Infrastruktur- und Tourismusprojekte statt. Diese Megaprojekte sollen ihren Energiebedarf über Solaranlagen und gestützt auf die größte Batteriespeicheranlage der Welt zu 100% mit erneuerbarer Energie decken.
Aufbau eines Ökosystems für Tourismus und Investitionen
Die Regierung Saudi-Arabiens bläht diese Projekte nicht einfach nur mit öffentlichen Geldern auf, sondern vollzieht den strategischen Aufbau eines Ökosystems, das sowohl Touristen als auch Investoren anzieht.
So hat Saudi-Arabien beispielsweise Schritte unternommen, um Bürokratie abzubauen und die damit verbundenen Prozesse zu straffen. Das umfasst etwa vereinfachte Verfahren zur Registrierung von Unternehmen, einen erleichterten Zugang zu Genehmigungen und Lizenzen sowie eine Verbesserung der allgemeine Transparenz. Darüber hinaus sind neue Gesetze zur Regelung von ausländischen Investitionen verabschiedet worden. Sie erlauben, dass sich Privatunternehmen vollständig im Besitz von Ausländern befinden (bei börsennotierten Unternehmen ist eine Beteiligung von bis zu 49% zugelassen) und schaffen Anreize für Investoren durch Steuererleichterungen und Aufenthaltsgenehmigungen. Diese Reformen zielen darauf ab, ein günstigeres Umfeld für ausländische Investitionen zu gewährleisten, die Wirtschaft Saudi-Arabiens zu diversifizieren und ein langfristiges nachhaltiges Wachstum zu fördern.
Aktienanleger zeigen zunehmendes Interesse, auch wenn Saudi-Arabien – das erst 2019 in den MSCI Emerging Markets Index (MSCI EM) aufgenommen wurde – in vielen Portfolios immer noch untergewichtet ist. Während die Anziehungskraft Chinas nachlässt und Russland aufgrund von Sanktionen weiterhin aus dem Index ausgeschlossen ist, geht Saudi-Arabien als ein möglicher Gewinner aus den aktuellen Entwicklungen hervor. Auf US-Dollar-Basis legte der MSCI Saudi Arabia 2023 um 10,7% zu, während der MSCI China um 11,2% nachließ. Die Gewichtung Saudi-Arabiens im MSCI EM hat sich derweil von 1,4% im Mai 2019 auf mittlerweile über 4% erhöht. Der auf mehr als 7% gestiegene Anteil des Nahen Ostens am MSCI EM unterstreicht das Wachstum.
Ähnliche Bestrebungen in den VAE
Wie Saudi-Arabien wirken auch die VAE auf eine Diversifizierung ihrer Wirtschaft hin. An der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Afrika gelegen, sind die VAE ein wichtiges Zentrum für Handel und Geschäfte. Ihre strategische Lage erleichtert ihnen den Zugang zu den globalen Märkten und macht sie zu einem attraktiven Ziel für multinationale Unternehmen, die sich in der Region niederlassen wollen.
Die VAE haben stark in Infrastruktur und Technologie investiert. Projekte wie die Expo 2020 in Dubai, die Erschließung von Abu Dhabis Yas Island und der Aviation District in Dubai South verdeutlichen die Entschlossenheit des Landes, seine Infrastruktur auszubauen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und ausländische Investitionen anzuziehen.
Andere Initiativen demonstrieren das Engagement der VAE für die Förderung von Innovationen und die Stimulierung von technologieorientierten Investitionen. Dazu gehören Dubais Smart-City-Projekt, Abu Dhabis Start-up-Ökosystem Hub71 und die Einrichtung von Forschungsinstituten und Technologieparks.
Visareformen und Aufenthaltsprogramme sollen überdies dazu beitragen, ausländische Investitionen anzuziehen. Im Rahmen der „Golden Visa“-Initiative können etwa Aufenthaltsgenehmigungen mit einer Gültigkeitsdauer von 10 Jahren erteilt werden, die begehrte Arbeitskräfte dazu ermuntern sollen, eine engere Bindung an die Region aufzubauen.
Auch der Tourismus und die Zuwanderung nehmen zu. Zwei aussagekräftige Indikatoren für diesen Wandel sind die gestiegene Zahl der Anmeldungen bei Privatschulen in Dubai (Abbildung), an der das Wachstum der Expat-Gemeinde gut abzulesen ist, und das erhöhte Tourismusvolumen. So stieg die Zahl der touristischen Reisen nach Dubai zwischen 2014 und 2019 mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 5% an. Zudem wurde prognostiziert, dass sie bis Ende 2023 das Niveau der Pandemiezeit um 3% übertreffen würde.
ESG-Fokus auf Menschenrechten
Natürlich sind alle Investitionen mit Risiken verbunden, und auch der Nahe Osten bildet hier keine Ausnahme. Er ist von geopolitischen Spannungen geprägt und hat im Vergleich zu anderen Regionen noch viel Nachholbedarf in Bezug auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) – insbesondere mit Blick auf Menschenrechte. Unserer Meinung nach sollten ESG-Aspekte bei Investitionen in dieser Region an erster Stelle stehen, da sie einen wesentlichen Einfluss auf das Geschäft und das Ertragspotenzial eines Unternehmens haben können.
Erfreulicherweise gibt es Fortschritte in diesem Bereich. So ist die Arbeitslosigkeit unter saudischen Frauen von 33,7% im Jahr 2016 auf 15,7% im Jahr 2023 gesunken, während die Erwerbsbeteiligung der Frauen von 17,7% auf 35,3% gestiegen ist – und damit das 30-Prozent-Ziel der Vision 2030 übertroffen hat. Darüber hinaus hat die saudische Regierung das Vormundschaftsrecht und das Erbschaftsrecht reformiert.
Viele Anlageverwalter setzen sich in ihrem Research nach wie vor zu wenig mit dem Nahen Osten auseinander, und die meisten Aktienanleger sind in der Region nach wie vor untergewichtet. Wir halten dies für eine verpasste Gelegenheit. Unserer Einschätzung nach birgt der Nahe Osten ein großes Investitionspotenzial in Verbindung mit dem tiefgreifenden wirtschaftlichen und kulturellen Wandel, der sich dort vollzieht.
Die Marktbewertungen können zu großen Teilen anspruchsvoll sein, doch wir sehen durchaus Chancen bei Unternehmen, die zu relativ attraktiven Preisen gehandelt werden. Ein aktives Management kann unserer Meinung nach dazu beitragen, Qualitätsunternehmen mit attraktiven Aussichten in einer zunehmend diversifizierten Region auszumachen.
Von Stuart Rae, Chief Investment Officer—Emerging Markets Value Equities