Während die Zentralbanken weltweit ihre Lockerungszyklen durchlaufen, fragen sich die Anleger, wo sich die Leitzinsen letztendlich einpendeln werden. Die richtige Antwort hängt von einer Schlüsselvariablen ab: dem „neutralen Zins“, der in wissenschaftlichen Studien als R* bezeichnet wird. Da die Geldpolitik mit einer langen und variablen Verzögerung arbeitet, können die politischen Entscheidungsträger R* nicht in Echtzeit beobachten. Stattdessen müssen sie ihn - angesichts der Herausforderungen und Unsicherheiten - schätzen. Ihr zentrales Problem besteht darin, festzustellen, ob die neutralen Zinssätze wieder auf das Niveau vor der Pandemie konvergieren werden oder ob der jüngste Inflationsausbruch R* in einigen oder allen Volkswirtschaften nach oben getrieben hat. Die Lösung? Wir sind der Meinung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) sich auf die grundlegenden strukturellen Probleme konzentrieren sollte, die die Volkswirtschaften des Euroraums bestimmen, und dabei die jüngsten starken, aber vorübergehenden zyklischen Faktoren ausklammern sollte, die größtenteils durch die COVID-Pandemie und den Energieschock ausgelöst wurden.
Steigt R* auf ein neues Niveau?
Vor der Pandemie waren die akademischen Modelle eindeutig der Meinung, dass R* einen Abwärtstrend aufweist. Einige dieser Modelle deuten nun jedoch darauf hin, dass R* wieder ansteigen könnte.
Welches Modell ist am aussagekräftigsten? Unserer Meinung nach gibt es eine zuverlässige Richtlinie.
Wir halten es für wichtig, zwischen den strukturellen Faktoren, die R* langfristig beeinflussen, und den vorübergehenden zyklischen Faktoren zu unterscheiden. So zeigt beispielsweise eine aktuelle EZB-Studie, dass mehrere zyklische Faktoren einen erheblichen Einfluss auf R* haben, darunter die Pandemie selbst, die daraus resultierenden Unterbrechungen der Lieferkette, der Energieschock nach der Invasion der Ukraine und die Konjunkturpakete der Regierungen.
Diese Faktoren haben zwar zum jüngsten Anstieg des neutralen Zinssatzes beigetragen, haben sich jedoch bereits umgekehrt oder sind dabei, sich umzukehren, und werden daher unserer Ansicht nach wahrscheinlich keinen weiteren Aufwärtsdruck ausüben. Wir glauben jedoch nicht, dass sich in der Eurozone strukturell etwas geändert hat, was einen deutlich höheren neutralen Zinssatz als vor der Pandemie rechtfertigen würde.
Risiken für R* sind auf der negativen Seite
Wir gehen davon aus, dass die Eurozone bestenfalls zu den konjunkturellen Bedingungen vor der Pandemie zurückkehren wird.
Das reale BIP-Wachstum im Euroraum wird voraussichtlich auf dem Niveau vor der Pandemie bleiben, sodass die Produktion auf absehbare Zeit weiterhin hinter dem Potenzial zurückbleiben wird. Tatsächlich schätzen wir, dass das Wachstumspotenzial der Eurozone bis 2028 wahrscheinlich von 1,2% auf unter 1% sinken wird.
Ungünstige demografische Entwicklungen sind ein großer Teil der Wachstumsprobleme der Eurozone: Eine alternde Bevölkerung schränkt das Arbeitskräfteangebot ein. Während die Nettozuwanderung den Rückgang der Arbeitskräfte teilweise ausgleicht, ist die positive Auswirkung für Europa geringer als in den USA, und der Gesamttrend im Euroraum ist immer noch rückläufig.
Wie in den USA hat die expansive Fiskalpolitik in Europa den R*-Wert des Euroraums in den letzten Jahren wahrscheinlich in die Höhe getrieben. Mit Blick auf die Zukunft glauben wir jedoch, dass die europäischen Länder weniger Spielraum für groß angelegte Ausgabenprogramme haben werden und die positiven Auswirkungen auf R* nachlassen werden.
Der Markt preist aktuell einen Zins der EZB zwischen 1,8% und 1,9% ein – ein angemessener Näherungswert für die Markteinschätzung des neutralen Zinssatzes. Das liegt im Bereich der Schätzungen vor der Pandemie, aber unserer Meinung nach zu nah an der Obergrenze und mit Spielraum nach unten.
Da sich das Potenzialwachstum im Euroraum wahrscheinlich weiter verlangsamen wird, die Fiskalpolitik stabil bleibt und die Inflation sinkt, gehen wir davon aus, dass sowohl R* als auch der Endpunkt des Lockerungszyklus der EZB niedriger sein werden als vom Markt aktuell prognostiziert (siehe Abbildung).
Von Sandra Rhouma, European Economist – Fixed Income bei AllianceBernstein