Die EZB hat wie allgemein erwartet ihre Leitzinsen um 25 Basispunkte gesenkt. Die Forward Guidance bleibt unverändert, aber die wirtschaftlichen Aussichten erfordern weitere Lockerungsmaßnahmen. Ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr mindestens eine weitere Zinssenkung geben wird, wobei der Zeitpunkt noch ungewiss ist – mit signifikantem Potenzial für zusätzliche Schritte. Da Inflationsrisiken aktuell weitgehend zurückgegangen sind, dürfte sich der Fokus der EZB nun auf das Risiko einer Zielverfehlung nach unten verlagern. Unter Vorbehalt, dass eine tiefe Rezession keine aggressivere Reaktion erfordert, dürften die europäischen Währungshüter ihren Strategiewechsel nur schrittweise vollziehen. Dafür gibt es zwei Gründe:
- Die bestehende Unsicherheit, insbesondere durch Handelskonflikte, erschwert die geldpolitische Steuerung, da deren Auswirkungen noch nicht klar sichtbar sind.
- Der Einlagensatz (DFR) befindet sich mit 2,0 Prozent derzeit im Bereich der neuen neutralen Spanne der EZB, die zwischen 1,75 Prozent und 2,25 Prozent liegt.
EZB-Präsidentin Lagarde betonte, die EZB sei „gut positioniert“, um mit der aktuellen Unsicherheit umzugehen. In diesem Kontext dürften die Widerstände einzelner Ratsmitglieder gegen weitere Zinssenkungen zunehmen – je häufiger diese erfolgen. Solange sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Zölle als moderat erweisen, wird die EZB an ihrem Meeting-by-Meeting-Ansatz festhalten. Die nächste Sitzung findet am 24. Juli statt, also erst nach Ablauf der 90-tägigen Schonfrist von Donald Trump. Ab dann könnten Zölle zwischen 10 und 50 Prozent auf EU-Produkte in Kraft treten.
Wachstum: Kurzfristig mehr Risiken, mittelfristig leichte Erholung
Die konjunkturellen Risiken sind kurzfristig klar nach unten gerichtet, während mittelfristig das Risiko eines Unterschreitens der Erwartungen steigt. Das reale BIP-Wachstum für 2025 wurde aufgrund eines stärker als erwarteten ersten Quartals bei 0,9 Prozent belassen. Für den weiteren Jahresverlauf wird jedoch mit schwächeren Zahlen gerechnet. Für 2026 hat die EZB ihre Prognose leicht auf 1,1 Prozent nach unten korrigiert, 2027 bleibt unverändert bei 1,3 Prozent. Die kurzfristige Schwäche wird weiterhin vor allem durch die Unsicherheit im Zusammenhang mit Zöllen getrieben, auch wenn sich deren unmittelbare Auswirkungen noch nicht gezeigt haben.
Für 2026 erwartet die EZB eine Erholung, da die Unsicherheiten nachlassen und die private Nachfrage weiter anzieht. Der Ausblick wird zusätzlich durch erwartete Infrastruktur- und Verteidigungsausgaben gestützt, die das Wachstum zwischen der zweiten Hälfte 2026 und Ende 2027 kumulativ um 0,25 Prozentpunkte anheben könnten. Diese Schätzungen stammen von den nationalen Zentralbanken und gehen davon aus, dass in diesem Zeitraum Investitionen in Höhe von 120 Milliarden Euro getätigt werden – hauptsächlich von Deutschland. Die Details zur Umsetzung werden voraussichtlich im Herbst 2025 entschieden. Je nach Umfang und Struktur dieser Maßnahmen kann das tatsächliche Wachstum 2026/2027 über oder unter den aktuellen Prognosen liegen.
Von Sandra Rhouma, European Economist – Fixed Income bei AllianceBernstein