„Im Zuge der Wiederöffnung der Wirtschaft nach der Covid-19-Pandemie kamen zunächst zahlreiche einmalige Inflationstreiber zum Tragen. Allerdings fordern auch längerfristige Treiber ihren Tribut. Darunter sind neben der geopolitischen Entwicklung Änderungen der Lieferkette zu nennen. Die Unternehmen verlagern sich wieder stärker auf das Inland und bilden neue Netzwerke – Faktoren, die nicht von heute auf morgen wieder verschwinden dürften. Meines Erachtens wird die Inflation wieder sinken, allerdings nicht auf das Niveau vor der Pandemie. Ein Umbruch dieser Art führt üblicherweise nicht wieder auf den Ausgangpunkt zurück, und wohin die Reise geht, ist eine der zentralen Fragen für 2023.
Eine Inflation geht in der Regel mit rückläufigen Aktienbewertungen einher, was 2022 auf breiter Basis zu beobachten war. Für 2023 erwarte ich eine größere Bewertungsstreuung, wobei Aktien mit längerer Duration – Unternehmen, deren Wachstumserwartungen weiter in der Zukunft liegen – voraussichtlich stärker unter Druck geraten werden. Anleger müssen sich überlegen, was sie für künftige Gewinne bereit sind zu zahlen, und werden früher Profitabilität einfordern. Dies wird dazu führen, dass für Unternehmen, die keine Gewinne vorweisen können, die Wahrscheinlichkeit negativer Bewertungskorrekturen steigt.
Wichtige Bedeutung verfügbarer Barmittel
Viele Anleger berücksichtigen im Hinblick auf die Bewertung lediglich die Kenngröße des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV). Diese Kennzahl ist zwar hilfreich, aber nicht der einzige Maßstab für den Wert eines Unternehmens. Meiner Meinung nach wird sich der freie Cashflow als die wichtigere Kenngröße erweisen, weil er ein guter Indikator für die mögliche Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens in einem schwächeren Marktumfeld mit weiterhin erhöhter Inflation ist. Überdies können Barmittel Aktienrückkäufe erleichtern, die wiederum den Aktienkurs eines Unternehmens unterstützen können. Es wird deutlich teurer sein, Aktienrückkäufe durch Schulden zu finanzieren, weshalb der freie Cashflow und das Dividendenwachstum (und weniger das absolute Renditeniveau) Kenngrößen sind, die auf eine höhere Qualität eines Unternehmens hindeuten könnten.
Relative Chancen, widerstandsfähige Unternehmen
Obwohl sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt, zeichnet sich derzeit keine besonders ausgeprägte Rezession in den USA ab. Dagegen steht die europäische Wirtschaft unter erheblichem Druck, sodass eine ausgeprägtere Rezession dort wahrscheinlich erscheint. Was die Schwellenländer betrifft, sorgen die chinesische Null-Covid-Politik, der starke US-Dollar und die geopolitische Entwicklung für Stress in den Volkswirtschaften.
Mit Blick auf die globalen Anlagechancen erscheinen die USA deutlich attraktiver als andere Regionen. Dabei bergen Small Caps meines Erachtens größere Chancen als Large Caps, zumal größere Unternehmen in der Regel ein stärkeres Auslandsexposure aufweisen und rund 35% ihrer Umsätze außerhalb der USA erwirtschaften. Darüber hinaus dürfte sich eine leichte Ausrichtung zugunsten von Substanz- und auf Kosten von Wachstumswerten auszahlen. Bestimmte Substanz-Segmente – z. B. Industrie oder Energie – werden auch 2023 noch profitieren. Dennoch werden Wachstumstitel interessanter. Viele Wachstumsunternehmen entwickelten sich 2022 unterdurchschnittlich. Wir wissen jedoch, dass ihre Geschäftsmodelle nach wie vor intakt sind und dass sie weiterhin Wettbewerbsvorteile aufweisen. Aufgrund des Zinsanstiegs 2022 sanken allerdings die Bewertungen dieser Unternehmen und sie waren von signifikanten Herabstufungen betroffen. Wenn man davon ausgeht, dass diese Entwicklung nun vorüber ist, dürften Wachstumswerte ebenfalls wieder sehr interessant erscheinen.
Selektivität entscheidend
In jedem Fall reicht die simple Beobachtung des Gesamtumfelds nicht aus, um 2023 Erfolge zu erzielen. Man muss tiefer in die Materie eintauchen, wobei ein aktiver, unternehmensbezogener Ansatz gefragt ist. Passive Indizes, insbesondere mit Bezug zu den internationalen Märkten, können inhärente Konzentrationen aufweisen, welche die Wertentwicklung eines Portfolios belasten können. Um erfolgreich durch das Jahr 2023 zu kommen, müssen Anleger wirklich die widerstandsfähigeren von den anfälligeren Unternehmen unterscheiden.
Von Melda Mergen, Global Head of Equities bei Columbia Threadneedle Investments
Den vollständigen Ausblick in englischer Sprache finden Sie hier.