In den USA sind nicht die Energiepreise Haupttreiber der Inflation, sondern vielmehr das Lohnwachstum von über 5 Prozent – das Ergebnis des überhitzten Arbeitsmarktes. Die Fed werde daher die Zinsen weiter anheben, um die Wirtschaft und damit die Nachfrage nach neuen Arbeitsplätzen zu drosseln, meint Steven Bell, Chefvolkswirt EMEA bei Columbia Threadneedle. Damit die Lohninflation wieder mit dem allgemeinen Inflationsziel von 2 Prozent übereinstimmt, müsse die Arbeitslosigkeit von derzeit 3,5 Prozent auf etwa 5 Prozent ansteigen.
Allerdings ist die US-Wirtschaft sehr flexibel, sodass die Korrektur schnell erfolgen könne. In anderen Bereichen, wie dem Wohnungsmarkt, findet bereits eine solche Anpassung statt.
„Ich glaube nicht, dass wir eine tiefe oder langanhaltende Rezession erleben werden. Die finanziellen Probleme, die normalerweise eine schwere oder langwierige Rezession verursachen, sind einfach nicht vorhanden“, sagt Steven Bell. „Das bedeutet, dass sich die Volkswirtschaften und Märkte im Jahr 2023 weiter erholen werden.“
Milder Winter in Europa bedeutet weniger Abkühlung der Wirtschaft
In Europa sind die kurzfristigen Gaspreise zwar gesunken, für den nächsten Winter bleiben sie nach seiner Ansicht nach jedoch hoch. Die Krise sei also noch nicht vorbei. Der milde Winter hat Europa jedoch mehr Zeit verschafft, um für den nächsten Winter auf neue Energiequellen umzustellen.
„Im kommenden Winter sind die Gaspreise in Europa immer noch fünf Mal höher als in den USA. Nach wie vor ist der Anreiz also groß, die europäischen Märkte mit Energie zu versorgen. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Marktreaktion dürften eine positive Überraschung werden“, so Bell.
Die Stimmung der europäischen Verbraucher ist derzeit noch getrübt, doch fallende Energiepreise sorgen bereits für weniger Druck. Wenn das Vertrauen der Verbraucher wieder zunimmt, verfügen sie auch wieder über die Kaufkraft aus den Staatshilfen aus der COVID-19-Pandemie.
Großbritannien: Auf die Rezession folgt 2024 die Erholung
Die britische Wirtschaft allerdings wird im Jahr 2023 unterdurchschnittlich abschneiden, da sie mit einer europaweiten Energiekrise und einem überhitzten Arbeitsmarkt zu kämpfen hat. Auch höhere Hypothekenzinsen werden erhebliche Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt haben und die Verbraucher weiterhin unter Druck setzen, so Bell.
Jedoch wird nach Ansicht Bells auf die Rezession eine wirtschaftliche Erholung folgen, möglicherweise schon im kommenden Jahr. Die Parlamentswahlen könnten für Premierminister Sunak ein Anreiz sein, bereits jetzt zu handeln, um den wirtschaftlichen Aufschwung im kommenden Jahr zu unterstützen.
Aktien, die während der Rezession fallen, bieten Chancen in der Erholungsphase
Die Markteinschätzung für das Wachstum der US-Unternehmensgewinne ist für das Jahr 2023 auf unterdurchschnittliche Werte gesunken, bleibt aber positiv. Die meisten Anleger sind jedoch weiterhin zurückhaltend. Stimmt man Bells Ansicht jedoch zu, dass die USA erst eine Rezession benötigen, um die Lohninflation auf ein nachhaltiges Niveau zu bringen, dann würden infolgedessen die Unternehmensgewinne unvermeidlich sinken.
„Im Aktienmarkt ist bereits viel Negativität eingepreist, aber das reicht noch lange nicht“, sagt der Volkswirt. „Die Geschichte zeigt, dass US-Aktien während einer Rezession immer fallen. Danach bieten sich neue Chancen. Wir erwarten aber noch für 2023 eine rasche Erholung.“
Zudem werde auch China in der zweiten Jahreshälfte zur Erholung beitragen. Die Entscheidung, von "zero-covid" auf "full-covid" umzusteigen, sorgt zwar für Chaos, wird eine wirtschaftliche Erholung jedoch nicht verhindern. Das wird Rohstoffe und Schwellenländeraktien insgesamt begünstigen. Allerdings sind das Bereiche, in denen Anleger sehr selektiv vorgehen müssen, um die große Vielfalt innerhalb dieser Anlagekategorien zu berücksichtigen.
Steven Bell, Chefvolkswirt bei Columbia Threadneedle Investments für die EMEA-Region