- Das makroökonomische Umfeld im Vereinigten Königreich und in Europa hat sich in den letzten Wochen verbessert, unter anderem weil die Angst vor hohen Energiepreisen nachlässt.
- Die Wirtschaftsdaten im Vereinigten Königreich und in Europa waren gut und die Sorgen um den Bankensektor haben sich gelegt.
- Zwar rechnen wir für Europa nicht mit einem Boom, doch die Ängste vor einer Rezession haben nachgelassen – das Jahr 2023 dürfte sowohl Kontinentaleuropa als auch Großbritannien stetiges Wachstum bescheren. Allerdings belasten höhere Hypothekenzinsen die britische Wirtschaft.
- Die Lohninflation und die hartnäckige Kerninflation bedeuten, dass die Europäische Zentralbank die Zinsen wahrscheinlich weiter anheben wird. Könnte es sogar dazu kommen, dass Europas Leitzinsen bis Ende des Jahres sogar die US-Zinsen übertreffen?
- Der Euro und der Britische Pfund könnten gegenüber dem US-Dollar weiter aufwerten, und europäische Aktien könnten sich besser entwickeln als ihre US-Pendants.
„Das makroökonomische Umfeld in Europa und Großbritannien hat sich in den vergangenen Wochen zunehmend verbessert und es könnte tatsächlich passieren, dass die Inflation Ende dieses Jahres in beiden Regionen unter 3 Prozent fällt“, verkündet Steven Bell. Laut dem Chefökonom von Columbia Threadneedle Investments liege das am wachsenden Vertrauen der Verbraucher: Die Angst vor horrenden Energiepreisen schwinde – und das Vertrauen nehme zu. „Das dürfte zu höheren Ausgaben führen“, schlussfolgert Bell. In seinem dieswöchigen Marktkommentar erörtert er, was für diese positiven Entwicklungen spricht – und was er für die Leitzinsen und Währungen erwartet.
Zeichen stehen auf allmähliche Erholung
„Bislang sprechen alle Anzeichen für dieses Szenario“, betont Bell: Die Wirtschaftsdaten seien sowohl im Vereinigten Königreich als auch im Euroraum viel besser ausgefallen als erwartet. Auch in Bezug auf die Banken habe sich die Sorge als unnötig erwiesen: „Wie wir vorhergesagt haben, gab es weder in Großbritannien noch in Europa einen Ansturm auf die Banken – trotz der Besorgnis über die Kreditkrise in den USA und die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS“, so der Chefvolkswirt. Und auch die Sorgen um die Deutsche Bank hätten sich gelegt. Gleichzeitig sei die Inflation im Euroraum bereits deutlich zurückgegangen. Die jüngsten Zahlen lagen bei 6,9 Prozent – im Oktober letzten Jahres waren sie noch bei 10,7 Prozent. Im Vereinigten Königreich liege die Inflation zwar nach wie vor bei über 10 Prozent. „Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Maßnahmen der Bank of England ihre Wirkung zeigen“, beruhigt Bell.
Natürlich sei es übertrieben, von einem Boom zu reden. Aber die weit verbreitete Angst vor einer Rezession, wie sie sich im vergangenen Herbst anzeichnete, habe sich als unbegründet erwiesen. „Im Jahr 2023 sollten wir in Europa und im Vereinigten Königreich ein langsames, stetiges Wachstum erleben“, so Bell. Weitere Impulse für eine allmähliche Erholung erwartet er vor allem von den Verbraucherausgaben in Deutschland. Hier habe sich das Verbrauchervertrauen erholt, die Realeinkommen steigen, während die Energierechnungen sinken. Gleichzeitig hätten die Menschen in der Phase großzügiger steuerlicher Unterstützung während der Covid-Pandemie reichlich Geld angespart, das sie nun ausgeben könnten.
EZB überholt die Fed
Dies hat wichtige Auswirkungen auf die Geldpolitik. Die Europäische Zentralbank freut sich, dass die Gesamtinflation zurückgegangen ist, während die Kerninflation bestehen bleibt und die Lohninflation sich sogar beschleunigt. „Die Wachstumsaussichten verbessern sich, und wir rechnen damit, dass die EZB ihre Zinsen weiter anheben wird“, so Bell. Doch es könnte laut dem Chefökonom noch zu einer dramatischeren Änderung kommen: „Wenn die USA, wie wir erwarten, später in diesem Jahr in eine Rezession schlittern, könnten die US-Zinsen bis zum Jahresende unter die Leitzinsen der EZB fallen – das wäre eine wirklich dramatische Veränderung.“
Das alles deute laut Bell darauf hin, dass der Euro und das Pfund Sterling gegenüber dem US-Dollar aufwerten könnten. „Die Belastung der Wirtschaft durch die Hypothekenzinsen wird den Anstieg des Pfund jedoch begrenzen. Das bedeutet, dass die Bank of England die Zinsen möglicherweise nicht weiter anheben wird“, gibt der Chefökonom zu bedenken. Für Anleger bedeute das: Mit einer besseren Konjunktur könnten sich auch europäische Aktien besser entwickeln als ihre US-Pendants.
Von Steven Bell, Chefvolkswirt EMEA bei Columbia Threadneedle