- Rezessionsrisiken sind in den USA höher als in Europa
- Die USA stehen vor einer möglichen Kreditklemme
- In Europa fassen die Verbraucher wieder Vertrauen in die Wirtschaft
- Bell hält US-Staatsanleihen für lohnenswert, steht Aktien neutral gegenüber und sieht schwarz für den US-Dollar
Während die US-Notenbank die Zinssätze voraussichtlich bis zum Jahresende senken wird, fährt die Europäische Zentralbank (EZB) mit der Straffung ihrer Geldpolitik fort. Damit sind Rezessionsrisiken in den USA jetzt deutlich höher als in Europa – eine Trendwende zu den Erwartungen von Ende 2022. Im Falle einer Rezession ist mit starken Zinssenkungen durch die US-Notenbank zu rechnen. Allerdings sind die Arbeitsmärkte sehr angespannt. „Das führt zu einem hohen Lohnwachstum und einer hohen Kerninflation in den USA und Europa“, erklärt Steven Bell, Chefvolkswirt EMEA bei Columbia Threadneedle. Die Zinssätze würden dementsprechend wahrscheinlich so lange weiter steigen, bis es deutliche Anzeichen für einen Beschäftigungsrückgang und eine Rezession in den USA gibt. „Solange dies nicht der Fall ist, wird die Fed die Zinsen wohl weiter anheben – wenn auch langsamer und in kleineren Schritten“, so Bell.
Aktuell hinge jedoch alles von den Wirtschaftsdaten ab. Die Zentralbanken sind nach dem Zusammenbruch der Silicon Valley Bank (SVB) und der Rettung der Credit Suisse nervös: Immerhin haben die schnellen Zinserhöhungen zu Spannungen und Unsicherheiten im Finanzsystem geführt.
Krise in den USA sorgt für Kreditverknappung
Die Kreditkrise in den USA ist ein Risiko. Sie ging dem Zusammenbruch der SVB voraus und spiegelt den Anstieg der Zinssätze und die klaren Erwartungen einer Rezession in diesem Jahr wider. „Allerdings gibt es jetzt eine ganze Reihe kleinerer US-Banken, die nicht mehr nach Möglichkeiten zur Kreditvergabe suchen, sondern sich stattdessen auf das Überleben und die Stützung ihrer Bilanzen konzentrieren werden“, erklärt Bell. Es bestehe die Gefahr einer Kreditklemme. Gegenwärtig handelt es sich jedoch eher um eine Kreditverknappung, da die betroffenen Banken nur einen kleinen Teil des gesamten Kreditvolumens ausmachten.
Außerdem gibt es eindeutige Anzeichen dafür, dass die Verbraucher ihre „Covid-Sparschweine" – die während der Covid-Pandemie angesparten Gelder – nicht mehr so aktiv plündern und die Dynamik nachgelassen hat. Damit haben sich die realen Ausgaben in den letzten sechs Monaten im Einklang mit den realen Einkommen abgeflacht. „Dies war der Schlüssel, der die USA im Jahr 2022 vor einer Rezession bewahrt hat. Nun scheint es unwahrscheinlich, dass dies auch in diesem Jahr funktionieren wird“, warnt der Chefökonom.
Positiver Kreislauf für die europäische Wirtschaft
Europa hat dagegen einen guten Start ins Jahr 2023 hingelegt. Das verarbeitende Gewerbe ist zwar relativ schwach, da die Unternehmen überschüssige Lagerbestände abbauen, aber Dienstleistungen haben bereits angezogen. „Die deutschen Verbraucher scheinen den Einzelhandelsumsätzen zufolge nicht aktiv zu sein, aber vielleicht liegt das daran, dass sie sich in wärmere Gefilde begeben haben und ihr Geld eher für Dienstleistungen als für Waren ausgeben“, sagt Bell.
Die europäischen Verbraucher hatten angesichts einer Reihe von Krisen, die erst jetzt nachlassen, ihre „Sparschweine" weiter aufgestockt. Bell sieht darin die Chance für einen positiven Kreislauf: „Die sinkende Inflation bedeutet, dass die europäischen Verbraucher wieder Vertrauen fassen und einen Teil ihrer angesammelten Ersparnisse ausgeben. Das stärkt wiederum die Wirtschaft, und das Vertrauen wächst weiter.“ Gleichzeitig werden die Löhne in Europa wahrscheinlich stark ansteigen, wobei die Indexierung und andere rückwirkende Lohnzuschläge die Kaufkraft der Verbraucher weiter stärken.
Die Aufgabe der EZB ist also noch nicht erledigt. „Tatsächlich wird ein weiterer Anstieg des Lohnwachstums auf 4 Prozent im Jahr 2023 prognostiziert, so dass wir für den Rest des Jahres eine Reihe von Zinserhöhungen erwarten“, so Bell.
Positiv für US-Staatsanleihen, neutral für Aktien, negativ für den US-Dollar
Die Realzinsen für 10-jährige US-Staatsanleihen liegen bei über 1 Prozent, verglichen mit einem Durchschnitt von 0,5 Prozent noch vor der Covid-Pandemie. „Wenn die Inflationserwartungen wie bisher unter Kontrolle bleiben, profitieren im nächsten Jahr US-, britische und in geringerem Maße auch Bundesanleihen“, sagt Bell.
Aktien wurden zwar durch Ergebnisse beflügelt, die die Erwartungen übertroffen haben, doch dies geschieht vor dem Hintergrund einer robusten Wirtschaft. Außerdem waren die Erwartungen zuvor drastisch gesenkt worden. Die Anleger seien laut Bell für das kommende Jahr immer noch pessimistischer als die Analysten, die von einer Rezession in den USA in diesem Jahr ausgehen.
Die Gewinnmargen der Unternehmen sind in den USA bereits unter Druck geraten, was einen deutlichen Unterschied zu Europa und dem Vereinigten Königreich darstellt, wo die Margen gestiegen sind. „Daher mögen wir US-Aktien nicht, sind aber insgesamt neutral. Wir bevorzugen britische und europäische Titel“, erklärt Bell.
Wenn die USA Ende des Jahres die Zinsen senken, während die EZB die Zinsen weiter anhebt, werden die Zinsen in Europa höher sein als in den USA. Und das ist eine dramatische Entwicklung mit Auswirkungen auf den US-Dollar und darüber hinaus.
Von Steven Bell, Chefvolkswirt bei Columbia Threadneedle Investments für die EMEA-Region