- Die Zentralbanken der wichtigsten Industrienationen zielen weiterhin darauf ab, das Inflationsniveau nachhaltig ihren jeweiligen Zielvorgaben anzunähern
- Der anhaltend angespannte Arbeitsmarkt und die hartnäckige Kerninflation zwangen die geldpolitischen Entscheidungsträger dazu, die Geldpolitik stärker als erwartet zu straffen
- Politische Entscheidungen wirken sich jedoch erst verzögert auf die Volkswirtschaften aus. Das Ausmaß dieser Verzögerung ist ausschlaggebend, um zukünftige Maßnahmen zu planen
Nach den Covid-19-Lockdowns der Jahre 2021 und 2022 verlagerte sich der Schwerpunkt der Verbrauchernachfrage von Waren auf arbeitsintensivere Dienstleistungsbereiche. Dazu kam eine rückläufige Erwerbsbeteiligung – dies führte zu einer Anspannung auf den Arbeitsmärkten und ließ die Löhne dementsprechend steigen.
Zum Eingreifen gezwungen
Die Covid-Pandemie löste eine Angebotsknappheit aus, die zu Inflationsschüben führte. Die Zentralbanken können solche relativ kurzfristigen Schwankungen, die durch angebotsseitige Faktoren ausgelöst werden, nicht sinnvoll beeinflussen und sollten sie daher ignorieren – was sie mit Verweis auf die inzwischen verspottete „vorübergehende“ Inflation auch taten. Steigende Preise schlugen sich jedoch in einer erhöhten Kerninflation und Lohnwachstum nieder – und schufen so eine Inflation über dem Zielwert, die sich selbst verstärkte. Einer solchen Lohn-Preis-Spirale müssen die Zentralbanken mit ihrer Geldpolitik entgegenwirken – das gehört zu ihren Aufgaben. Unter den Zentralbanken der Industrieländer war die Bank of England (BoE) die erste, die rasch Programme zur Straffung der Geldpolitik einleitete. Damit endete im Dezember 2021 die Ära der Niedrigzinsen und die Notenbanken machten sich daran, Angebot und Nachfrage in den Volkswirtschaften wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, das mit den Inflationszielen im Einklang ist.
Grafik 1: US-Inflation im Vergleich zum Leitzins
Quelle: Columbia Threadneedle Investments und Bloomberg, 30. Juni 2023
Straffen oder nicht straffen…
Der wichtigste Diskussionspunkt ist heute: Haben die Zentralbanken ihre Politik bereits genügend gestrafft, um die Nachfrage ausreichend zu senken? Bei dieser Debatte haben sich zwei Extrempositionen herauskristallisiert: Die Einen meinen, es könnte bereits (mehr als) genug getan worden sein, und es braucht lediglich mehr Zeit, bis wir die Auswirkungen in vollem Umfang spüren. Vertreter der gegensätzlichen Position behaupten dagegen, alle Auswirkungen seien bereits vollständig eingetreten – und verlangen dementsprechend weitere Zinsschritte, um die Kerninflation auf das Zielniveau zu bringen.
Die Quintessenz der Debatte ist, wie lang es bei einer schrittweisen Straffung der Geldpolitik dauert, bis ein entsprechender Rückgang in der Nachfrage spürbar wird. Eine Antwort auf diese Frage liefert eine Untersuchung des empirischen Verhältnisses zwischen den Leitzinsänderungen der Zentralbanken und den Veränderungen des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den USA, im Vereinigten Königreich und in der Eurozone. Dabei zeigt sich: Während sich die Verzögerung zwischen einer geldpolitischen Maßnahme und deren wirtschaftlichen Auswirkungen in den USA auf elf Monate beläuft, beträgt dieser Zeitraum im Vereinigten Königreich acht Monate und in der Eurozone neun Monate.
Grafik 2: Verzögerte Veränderung des Leitzinses der Fed im Vergleich zur Veränderung des US-BIP-Wachstums
Wendet man diese Ergebnisse auf die aktuelle Situation an, zeigt sich: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Zinserhöhungen in den USA waren im ersten Quartal 2023 zu spüren. Im Vereinigten Königreich machte sich der Effekt der geldpolitischen Straffung im dritten Quartal 2022 bemerkbar, während die Straffungsmaßnahmen der Europäischen Zentralbank in der Eurozone im zweiten Quartal 2023 ihre Wirkung zeigen müssten. Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Analyse besteht jedoch darin, dass die endgültigen Auswirkungen der Zinserhöhungen nicht vor dem vierten Quartal 2023 oder dem ersten Quartal 2024 eintreten dürften. Dabei lässt sich allerdings kein endgültiger Zeitplan bestimmen, denn neben den Leitzinsänderungen beeinflusst auch eine ganze Reihe anderer Faktoren das BIP-Wachstum und die Arbeitsmärkte.
Beispiel: Der britische Wohnungsmarkt
Ein anschauliches Beispiel für die Wechselwirkungen der Geldpolitik mit verschiedenen wirtschaftlichen Faktoren – und auch die Veränderungen dieser Wechselwirkungen – stellt der britische Wohnungsmarkt dar. Im Vereinigten Königreich sind Hypotheken ein wichtiger Übertragungsmechanismus von höheren Leitzinsen zu einer geringeren Wirtschaftstätigkeit. Trends in der Struktur dieses Marktes deuten jedoch darauf hin, dass sich die Durchdringungsrate der geldpolitischen Straffung verändert hat. Grund sind die Zinssätze der Hypotheken: Der Anteil der britischen Hypotheken, die mit variablen Zinssätzen abgeschlossen wurden, lag 2012 bei über 70 Prozent, im ersten Quartal dieses Jahres waren es dagegen gerade mal 12,5 Prozent. Jede geldpolitische Straffung der BoE hätte demnach 2012 bei einem weit höheren Anteil der Haushalte das verfügbare Einkommen unmittelbar verringert, als das heute der Fall wäre. Zwar werden irgendwann alle Haushalte mit Hypothekarkrediten die vollen Auswirkungen der höheren Zinssätze spüren – aber das wird Jahre dauern. Denn etwa die Hälfte aller Hypotheken im Jahr 2021 wurde mit einer fünfjährigen Festlaufzeit abgeschlossen. Bleiben die Zinssätze auf dem Stand von Ende Mai, wird der durchschnittliche ausstehende Hypothekenzinssatz wahrscheinlich erst im dritten Quartal 2024 4 Prozent erreichen. Das Ergebnis: Die letzten Auswirkungen der Zinserhöhungen auf das englische BIP werden wir – nicht wie am Modell absehbar – im Oktober 2023 sehen, sondern erst später.
Grafik 3: Neue und bestehende britische Hypothekenzinsen im Verlgeich
Der genaue Zeitpunkt, an dem die Straffung der Geldpolitik voll zum Tragen kommt, bleibt ungewiss. Allerdings dürften die Auswirkungen der bereits eingeleiteten Schritte immer spürbarer werden. Dementsprechend sollten Anleger sich in ihren Multi-Asset-Portfolios weiterhin vermehrt auf langlaufende Staatsanleihen fokussieren, bei einer leicht reduzierten Aktienquote.
Von Ben Rodriguez, Fund Manager Multi-Asset, und Matt Rees, Fund Manager Managed Funds bei Columbia Threadneedle Investments