Betrachtet man die Inflation, so scheinen die USA auf Kurs zu sein. Der Rückgang der Gesamtinflation ist zu begrüßen, noch wichtiger ist aber, dass auch die Kerninflation abnimmt. Wenn die Löhne diesem Trend folgen – und dafür gibt es deutliche Anzeichen – könnte es in den USA zu einer sanften Landung kommen. Europa und das Vereinigte Königreich dagegen hinken hinterher. Hier sind die Aussichten für Wachstum und Inflation eng miteinander verwoben, denn eine hartnäckige Inflation bringt weitere Zinserhöhungen mit sich – und damit auch mehr Risiken für das Wachstum. „Insgesamt heben wir unsere Erwartungen an, auch wenn das Risiko einer leichten Rezession nicht vom Tisch ist,“ erklärt Steven Bell, Chefvolkswirt EMEA bei Columbia Threadneedle Investments. „Staatsanleihen bleiben attraktiv, aber die Aussichten für Aktien haben sich verbessert.“
USA auf dem Weg zu einer „makellosen Disinflation“
„Die Gesamtinflation in den USA nähert sich bereits der 3,0%-Marke an, und das Ziel der Federal Reserve rückt in Sichtweite“, fasst Bell die Lage in den Vereinigten Staaten zusammen. Zwar liege die Kerninflation immer noch bei 4,8%, aber auch sie gehe allmählich weiter zurück. „Unsere Prognosen zeigen, dass die Mietinflation, eine Schlüsselkomponente, auf 4% zusteuert. Nur noch die Lohninflation liegt bei etwa 5% – damit die Fed ihr allgemeines Inflationsziel erreicht, müsste sie auf unter 4% sinken“, so der Chefökonom. Und auch hier stünden die Zeichen auf Rückgang: Jüngste Daten zeigen, dass die Unternehmen ihren Mitarbeitern angesichts des Drucks auf die Gewinnmargen keine höheren Löhne mehr zahlen.
Abbildung 1: Lohninflation in Prozent, Veränderung gegenüber dem Vorjahr – Unternehmen verlieren keine Mitarbeiter mehr an besser zahlende Konkurrenten
Eine niedrige Gesamtinflation bedeutet, dass auch geringere Lohnerhöhungen die Kaufkraft stärken und somit zu einer Mäßigung der Lohnforderungen beitragen. Das macht Bell zuversichtlich: „Wir glauben, dass die USA so tatsächlich auf eine weiche Landung zusteuern könnten.“
Deutliche Schwächephase in Europa
Ein ganz anderes Bild zeigt sich in Europa. Hier blieben die Wirtschaftsdaten überraschend schlecht, und die Eurozone befindet sich in einer technischen Rezession. Das verarbeitende Gewerbe, das für die europäische Wirtschaft eine größere Rolle spielt, leidet eindeutig stärker unter dem derzeitigen Abschwung. Die Konsumentenausgaben sind ebenfalls bescheiden: Auch wenn die Stimmung der Verbraucher in der Eurozone nicht mehr so düster ist, zögern sie weiterhin, ihre Ersparnisse auszugeben – im Gegensatz zu den Verbrauchern in den USA und zunehmend auch im Vereinigten Königreich.
Obwohl das Risiko einer weiteren leichten Rezession für die träge Wirtschaft in der Eurozone bestehen bleibt, sieht Steven Bell immer noch einen Weg zur Erholung: „Die Verbraucher werden irgendwann beginnen, einen Teil ihrer Ersparnisse auszugeben, und der Produktionszyklus wird mit der Erholung der Weltwirtschaft ebenfalls wiederaufleben“, so der Chefökonom.
Abbildung 2: Composite PMI-Indizes – Einkaufsmanagerindizes (PMI) sinken mit deutlicher Schwäche in der Eurozone
Großbritannien ist ein Ausreißer bei der Inflation – aber Besserung ist in Sicht
Auch im Vereinigten Königreich fielen die Inflationszahlen enttäuschend aus. „Dieses Ergebnis ist auf die verzögerten Auswirkungen der höheren Importkosten zurückzuführen, die sich erst nach zwölf Monaten in der Lieferkette bemerkbar machen“, erläutert Steven Bell. Doch Besserung sei in Sicht: Nach der Schwäche im vergangenen Jahr ist das Pfund Sterling wieder erstarkt. „Das bedeutet, dass sich der Inflationsanstieg von 2% in diesem Jahr umkehren wird und ein weiterer Rückgang von 1% im Jahr 2024 zu erwarten ist“, so Bell.
Einen weiteren positiven Faktor sieht der Volkswirt darin, dass die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs ganz gut dasteht, wenn man die Einkaufsmanagerindizes betrachtet – auf Augenhöhe mit den USA und auf jeden Fall besser als die Eurozone, trotz aller negativen Schlagzeilen. Aktuell liegt das Augenmerk vor allem auf den Problemen auf dem Immobilien- und Hypothekenmarkt. Bell ist jedoch der Ansicht, dass die Hypothekenkosten inzwischen ihren Höchststand erreicht haben dürften. „Die Hauspreise werden zwar gegenüber ihrem Höchststand um etwa 10% sinken, aber das Schlimmste ist überstanden, sodass die Preise immer noch über dem Niveau von vor der Pandemie liegen“, sagt der Chefökonom.
Abbildung 3: Inflationsschub durch das schwache Pfund im Jahr 2022 wird sich umkehren
Die Aussichten für Aktien haben sich verbessert, und Japan sieht besonders attraktiv aus
Was bedeutet das für Investoren? „Unserer Meinung nach sind die Aussichten für Aktien wesentlich optimistischer geworden,“ erklärt Steven Bell. „Unsere Erwartungen für die Gewinne des S&P 500 liegen zwar immer noch unter dem Konsens der Marktteilnehmer, aber das entspricht auch den Erwartungen der Durchschnittsinvestoren, die den aktuellen Analystenprognosen zu Recht skeptisch gegenüberstehen.“
Columbia Threadneedle bevorzuge den britischen Aktienmarkt, der billig und in Ungnade gefallen ist. „Denn im Vergleich dazu ist der US-Aktienmarkt teuer, und viele potenzielle Gewinne aus Technologien in Verbindung mit künstlicher Intelligenz wurden bereits diskontiert“, erklärt der Chefvolkswirt von Columbia Threadneedle. Als vielversprechend schätzt der Vermögensverwalter außerdem den japanischen Aktienmarkt ein, wo die Unternehmensgewinne und die Renditen für die Aktionäre steigen. Gemessen an Dividenden und Aktienrückkäufen liegt der Prozentsatz, den der TOPIX-Index den Anlegern einbringt, inzwischen auf dem Niveau des S&P 500.
Und auch Staatsanleihen erachtet Bell angesichts des hohen risikolosen Zinses als attraktiv. „Wenn es zu Zinssenkungen kommt, weil die Inflation abnimmt und sich den Zielen der Zentralbanken nähert, dürften die Renditen sinken“, so der Chefökonom.
Abbildung 4: S&P 500 Gewinn pro Aktie (EPS) (Y/Y) – Modell prognostiziert negatives Gewinnwachstum in den USA