Die Zentralbankzinsen dürften 2024 deutlich gesenkt werden. Dies wäre eine Erleichterung für die Verbraucher, Unternehmen, Finanzmärkte und Regierungen gleichermaßen – diese stehen seit dem starken Anstieg der Leitzinsen in den letzten zwei Jahren unter Druck. Die Zentralbanken mussten die Zinssätze aggressiv anheben, denn sie hatten das Ausmaß und die Dauer des Inflationsdrucks nach der Covid-Pandemie lange unterschätzt. Da die Zinssätze während der Pandemie bei oder nahe Null lagen, waren die ersten zwei oder mehr Prozentpunkte der Straffung keine Bremse für die Wirtschaft, sondern eher ein Fuß vom Gaspedal – und die Inflation stieg weiter und schneller an als erwartet.
Inflation unter Kontrolle – ohne Rezession
Die gute Nachricht: Die Zentralbanken bringen die Inflation allmählich unter Kontrolle, ohne eine Rezession auszulösen. In den USA gab es überhaupt keine Rezession. Einige haben dies als „makellose Disinflation“ bezeichnet, und es ist eines der vielen einzigartigen Merkmale der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Zentralbanken Europas, des Vereinigten Königreichs und der USA halten seit mehreren Monaten allesamt ihre Zinssätze auf einem unveränderten Niveau. Zwar erklärten die Notenbanken, dass sie die Zinssätze für einen längeren Zeitraum hoch halten wollen und sogar bereit sind, sie bei Bedarf anzuheben. Dennoch rechnen die Finanzmärkte jetzt mit Zinssenkungen von über einem Prozentpunkt bei allen drei bis Ende 2024. Die Marktspekulationen drehen sich nun darum, wer die Zinsen zuerst senken wird und wann.
USA: Zinsen von 2-3 Prozent
Ich persönlich rechne im Frühjahr mit den ersten Zinssenkungen und gehe davon aus, dass sie stärker ausfallen, als der Markt derzeit einpreist. Die Zentralbanken wollen jedoch sicher sein, dass die Inflation dauerhaft auf ihr jeweiliges 2-Prozent-Ziel zusteuert, bevor sie geldpolitische Lockerungen in Erwägung ziehen. Die USA sind dem am nächsten: Die Gesamtinflation nach dem Verbraucherpreisindex liegt bei 3 Prozent, und obwohl die Kerninflation höher ist, geht sie schnell zurück. Das von der US-Zentralbank bevorzugte Maß für die Inflation, der Deflator für die Verbraucherausgaben, ist sogar noch niedriger. Die Lohninflation ist ebenfalls zurückgegangen und liegt nur noch geringfügig über der Rate, die einer Preisinflation von 2 Prozent entspricht. Die traditionelle Spirale, bei der sich Löhne und Preise immer weiter nach oben bewegen, läuft nun in umgekehrter Richtung.
Wo werden sich die Zinsen schließlich einpendeln? Niemand, auch nicht die Fed selbst, weiß das mit Sicherheit, aber 2-3 Prozent sind eine vernünftige Schätzung. Das ist wesentlich niedriger als die derzeitigen Zinssätze von über 5 Prozent. Es ist jedoch zu erwarten, dass die USA die Zinsen schrittweise und vorsichtig senken werden.
Eurozone: Zieht die EZB mit der Fed gleich?
Die Prognose der Zinssätze in der Eurozone erfordert etwas mehr Vorhersagekraft und ist daher mit größerer Unsicherheit behaftet. Die Lohninflation in der Eurozone liegt nur wenig höher als in den USA, aber die jüngsten Zahlen zeigen eine Beschleunigung in der Entwicklung. Die tatsächliche Inflation ist jedoch in letzter Zeit stark zurückgegangen, und bei der wichtigen Lohnrunde Anfang 2024 dürfte es zu einem starken Rückgang der Lohnabschlüsse kommen. Die Chancen stehen gut, dass die Europäische Zentralbank in Bezug auf Zeitpunkt und Umfang der Zinssenkungen mit den USA gleichzieht.
Vereinigtes Königreich: Inflation hoch, aber rückläufig
Noch größer ist die Unsicherheit im Vereinigten Königreich, wo die Inflation höher und die Lohninflation sogar deutlich höher liegt. Doch trotz der hohen Jahresraten sind die monatlichen Zahlen in letzter Zeit erheblich zurückgegangen. Die Bank of England könnte den Umfang der amerikanischen und europäischen Zinssenkungen folgen, aber sie wird wahrscheinlich die letzte sein, die die Zinsen senken wird.
Von Steven Bell, Chief Economist EMEA bei Columbia Threadneedle Investments