Das Wahlverfahren in Indien ist aufgrund der riesigen Bevölkerung recht kompliziert. Vom 11. April bis zum 19. Mai geben rund 900 Millionen Inder in 29 Bundesstaaten ihre Stimme ab – dies sind mehr Menschen als die Bevölkerung der USA und der Europäischen Union zusammen. Die Abstimmung erfolgt in insgesamt sieben Phasen, damit Sicherheitskräfte im ganzen Land eine sichere und gerechte Wahl sicherstellen können. Das Unterhaus des indischen Parlaments, die Lok Sabha, hat 543 Sitze. Für eine Mehrheitsregierung muss eine Partei oder eine Koalition also mindestens 272 Parlamentarier stellen. Diese wählen wiederum ihren Vorsitzenden, der anschließend Premierminister des Landes wird.
Wahlausgang bestimmt Zukunft der Wirtschaftsreformen
Die Wahl wird sehr genau von Marktbeobachtern verfolgt, da der Ausgang darüber entscheiden könnte, wie zügig das umfassende Wirtschaftsreformprogramm Indiens, das von der Regierung Modi in die Wege geleitet wurde, künftig weiter umgesetzt wird. Elemente der Reform waren unter anderem die Einführung des Gesetzes über Steuern auf Waren und Dienstleistungen (GST) – eine Verfassungsänderung, durch die unzählige bundesstaatliche und nationale Steuern auf eine Reihe von Waren und Dienstleistungen durch eine landesweit einheitliche indirekte Steuer ersetzt werden können – sowie Maßnahmen zur raschen Digitalisierung der indischen Wirtschaft.
Obwohl die BJP und der Indische Nationalkongress in ihren Wahlprogrammen ähnliche Themen behandeln, wollen sie ihre Ziele auf unterschiedliche Weise erreichen. Während die BJP die nationale Sicherheit priorisiert, konzentriert sich der INC eher auf die Wiederherstellung der finanziellen Stabilität. Beide Wahlprogramme decken eine Reihe von Themen ab, die die Bürger belasten – vom Arbeitsmarkt über die Sicherheit von Frauen bis hin zur nationalen Sicherheit.
BJP vs. INC – Sozialprogramme und Steuergerechtigkeit im Fokus
Im Mittelpunkt von Modis Politik stehen Punkte wie Nationalstolz und die nationale Identität. Viele glauben, dass er im Umgang mit Sicherheitsfragen ein dynamisches und entschlossenes Handeln unter Beweis gestellt hat. So ist Modis Zustimmung zu Luftschlägen gegen Pakistan als Reaktion auf die tödlichen Angriffe in der Region Kaschmir bei seinen Wahlkampfreden ein immer wiederkehrendes Thema. Im Werben um Wählerstimmen setzt die BJP auch auf Sozialprogramme – unter anderem zur Bereitstellung von sanitären Einrichtungen, Stromanschlüssen und Gas zum Kochen für die Armen.
Zudem verspricht die BJP in ihrem Wahlprogramm, den Satz der GST zu senken, Steuerehrlichkeit zu belohnen und in Compliance-Fragen Verbesserungen zu erreichen. Die Vereinfachung der Abläufe in der GST-Architektur ist eine weitere Priorität für die Partei. In ihrem Wahlprogramm spricht sie außerdem davon, Indien bis zum Jahr 2030 zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt machen zu wollen. Allerdings wird die Regierung Modi weiterhin dafür kritisiert, dass es ihr nicht gelingt, genügend Arbeitsplätze zu schaffen und die Notlage zu lindern, die vor allem im Agrarsektor offenkundig ist. Dort bleibt die Zahl der Selbstmorde unter den Bauern weiterhin hoch.
Der Indische Nationalkongress (INC) verspricht in seinem für die diesjährigen Wahlen zur Lok Sabha am 11. April veröffentlichten Wahlprogramm mehr Arbeitsplätze zu schaffen und einen garantierten Mindestlohn von 6.000 Rupien (umgerechnet 87 USD) pro Monat für die ärmsten 20% der Bevölkerung einzuführen. Gandhi hat erklärt, dass seine Regierung im Falle eines Wahlsiegs danach streben werde, die Armut bis zum Jahr 2030 zu beseitigen und ein «Zeitalter der Einfachheit, Transparenz, Steuergerechtigkeit, unkomplizierten Compliance und unparteiischen Verwaltung einzuläuten».
Einige Analysten glauben, dass die Wahl zur Bildung einer Koalitionsregierung unter der Führung der BJP führen und dies der Stimmung Auftrieb geben dürfte. Nach Angaben der Economist Intelligence Unit könnte es jedoch problematisch werden, die unterschiedlichen Interessen der Koalitionsparteien unter einen Hut zu bringen. Die Reformen zur Verbesserung des Geschäftsumfelds könnten nur langsam vorankommen und durch politischen Druck gebremst werden. Sollte sich dies so abzeichnen, müssen wir die Lage sehr genau beobachten.
Fazit: Umsichtige Aktienauswahl ist entscheidend
Den indischen Aktienmarkt halten wir für hoch, aber immer noch attraktiv bewertet. Wir sind davon überzeugt, dass der Markt – um von den aktuellen Niveaus weiter zulegen zu können – auf neue Impulse angewiesen ist, etwa ein unerwartet starkes Gewinnwachstum auf der Unternehmensebene oder einen völlig klaren Wahlausgang. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn eine Partei eine klare Mehrheit erringt, durch die sie sich auf die Zukunft des Reformprogramms konzentrieren kann.
Was Engagements in Indien angeht, beurteilen wir den Finanzsektor – vor allem Privatbanken – überaus positiv, da sich das Kreditwachstum und die Margen allmählich bessern und anscheinend viele Banken die Kapitalprobleme, die sie in der Vergangenheit belastet hatten, gelöst haben. Andererseits halten wir uns bei reinen Telekomwerten nach wie vor zurück, da ihre Erträge unseres Erachtens noch längere Zeit niedrig sein werden.
Schließlich sind wir davon überzeugt, dass jeglicher Wechsel in der Regierung zwar ein Risiko für das Tempo und das Wesen des indischen Reformprogramms sein könnte, die meisten politischen Kandidaten aber wirtschaftsfreundlich zu sein scheinen. Zudem deutet nichts darauf hin, dass Indiens Wachstumsmotor ins Stottern gerät. Da sich das Geschäftsumfeld im Land nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses rasch verändern dürfte, halten wir jedoch eine umsichtige Titelauswahl für entscheidend, um von diesem Markt zu profitieren.
Tim Love, Investment Director, GAM Investments