Die Beurteilung der Auswirkungen der Coronakrise auf die Wirtschaft ist eine komplexe Angelegenheit. Verschiedenste Faktoren wirken sich auf die Volkswirtschaften in der ganzen Welt aus: Lockdowns, Wiederöffnungen, veränderte Nachfragemuster, Unterbrechungen der Lieferketten, fiskalische und geldpolitische Anreize usw. Einige dieser Phänomene haben ein deutlich größeres Ausmaß als in den Jahrzehnten vor COVID. Folglich ist es wahrscheinlich, dass sich die Wirtschaft als dynamisches System nicht nach den bekannten Mustern verhält. Wirtschaftsmodelle sind nicht auf das aktuelle Umfeld und auf zweitrangige Effekte kalibriert, die man zwar ansonsten ignorieren könnte, die aber zu unerwarteten Ergebnissen führen können. Es kommt u.a. zu schwer erklärbaren Veränderungen des Arbeitskräfteangebotes, und die Inflation wird von zusätzlichen Faktoren beeinflusst, die sie vorläufig resistenter macht. Dies erschwert die Vorhersage von Wirtschaftsvariablen sehr und führt zu größeren Abweichungen bei den Schätzungen und damit zu größeren Überraschungen (nach oben und nach unten) und zu mehr Volatilität.
In den Industrieländern ist dieses Phänomen beispielsweise seit Oktober zu beobachten, als die ‚Bank of England‘ und die ‚Reserve Bank of Australia‘ den Markt überraschten und die Volatilität deutlich erhöhten. Dasselbe geschah vor kurzem, als US-Notenbankchef Powell die Verwendung des Begriffs „vorübergehend“ zur Beschreibung der Inflation änderte. Zentralbanken und die Investorengemeinschaft blicken auf ähnliche Daten und dürften ebenso ratlos sein.
Unsere wichtigste Botschaft ist in diesem Zusammenhang, dass es schwierig ist, kurzfristige Prognosen abzugeben. Vielmehr sollten wir uns jedoch auf den allgemeinen Kurs konzentrieren, den die verschiedenen Faktoren auf den Zinsmärkten einzuschlagen scheinen:
- Die langfristige Inflationsdynamik hat sich nicht grundlegend geändert. Die meisten langfristigen Inflationstreiber sind nach wie vor intakt (selbst die zusätzlichen fiskalischen Anreize dürften sich längerfristig normalisieren). Wir gehen daher davon aus, dass sich die Inflation normalisieren wird, und tatsächlich werden ab einem gewissen Punkt Basiseffekte zum Tragen kommen, sobald sich einige Preise normalisieren, was zu negativen Beiträgen von diesen Komponenten des Inflationskorbs führen wird.
- Auch das Wachstumspotenzial dürfte sich nicht grundlegend von dem vor der COVID-Krise unterscheiden (jede Produktivitätssteigerung wird durch die geringere Erwerbsbeteiligung und die Alterungsdynamik kompensiert werden). Auch das Wachstum wird sich zwangsläufig wieder auf den Vor-COVID-Niveaus ‚normalisieren‘.
Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Zentralbanken die Zinsen so stark anheben können wie in früheren Zyklen. Das lange Ende des Anleihenmarktes bestätigt dies bislang, da es zu keinen Ausverkäufen kam, als das kürzere Ende zu Beginn des 4. Quartals 2021 weitere Zinserhöhungen einpreiste. Angesichts der gewaltigen, noch immer steigenden Staatsverschuldung in Verbindung mit einer alternden Gesellschaft, in der sich die Produktivität nicht nennenswert verbessert, würde jede Zinserhöhung eine stärkere geldpolitische Straffung nach sich ziehen als üblich. Dies dürfte den Spielraum für den kommenden Zinserhöhungszyklus eindämmen. Wir halten die derzeitige Anzahl von eingepreisten Leitzinsanhebungen für angemessen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Fed ihren angestrebten Zielwert von 2,5 % erreichen wird. Wenn überhaupt, würden wir steigende Renditen als Chance zum Kauf sehen. Allerdings gibt es einige Vorbehalte. Die COVID-bedingte Volatilität könnte durch eine Reihe schwelender geopolitischer Themen wie Ukraine, die Beziehungen zwischen den USA und China usw. noch verschärft werden, aber das entspricht nicht unserem Basisszenario. Ein weiteres, die Volatilität verstärkendes Szenario ist, dass sich die Inflation tatsächlich als hartnäckiger erweist und über einen deutlich längeren Zeitraum auf hohem Niveau verharrt. In einem solchen Fall müssten die Zentralbanken deutlich aggressiver vorgehen.
Andererseits sind die realen Renditen von Staatsanleihen der Schwellenländer sehr attraktiv. Hinzu kommt, dass ihr Spread gegenüber US-Staatsanleihen recht großzügig ausfällt, selbst im Vergleich zu den Niveaus des ‚Taper Tantrum‘ von 2013. Allmählich mangelt es den Schwellenländern nicht mehr an Attraktivität. Doch trotz mehrfacher Leitzinsanhebungen in vielen Schwellenländern ist der reale Leitzins aufgrund der hohen Inflation immer noch negativ. Sobald sich die Inflation zu normalisieren beginnt, dürften die steigenden realen Leitzinsen die Währungen stützen, was der Währungskomponente mehr Attraktivität verleihen würde. Daher warten wir noch etwas ab und nehmen im späteren Verlauf des Jahres 2022 eine Übergewichtung vor, wenn uns die Bewertungen noch attraktiver erscheinen.
Die Spreads von Unternehmensanleihen dürften von der derzeitigen Volatilität weniger betroffen sein als die von Staatsanleihen, auch wenn sie dagegen nicht gefeit sind. Wir gehen davon aus, dass Investment-Grade-Anleihen (IG) unverändert durch mehrere Faktoren gestützt werden. Erstens erwarten wir eine Fortsetzung des Anleihekaufprogramms der EZB, wenn auch in einem reduzierten Tempo. Und zweitens waren Endanleger, die „echtes“ Geld investieren, überzeugte Käufer und dürften dies auch bleiben, da IG-Unternehmensanleihen immer noch einen angemessenen Spread gegenüber Staatsanleihen aufweisen. Schließlich verfügen viele Unternehmen über beträchtliche Liquiditätspuffer und werden daher im nächsten Jahr wohl kaum rekordverdächtige Emissionen tätigen. Bei IG-Anleihen sind wir neutral gewichtet. Im Falle einer deutlichen Spread-Ausweitung könnten wir eine Übergewichtung ins Auge fassen, allerdings mit einer gewissen Vorsicht.
Auch die Spreads bei Hochzinsanleihen sind gut unterstützt, könnten sich aber bei anhaltender Volatilität etwas ausweiten. Hier spielen wiederum mehrere Faktoren eine Rolle: Die Unternehmen haben ihren Fremdkapitalanteil verringert und halten erhebliche Liquiditätsreserven. Darüber hinaus wurden Fälligkeiten in das Jahr 2023 hinein verlängert. Ein großes Risiko besteht darin, dass einige Hochzins-Emittenten einen Teil ihrer Liquidität für Fusionen und Übernahmen, Sonderdividenden oder Aktienrückkäufe einsetzen werden. Dieses aktionärsfreundliche Verhalten könnte die Spreads ausweiten lassen. Jedoch ist ein solches Verhalten eher typisch für CCC-Emittenten, und wir lassen in dieser Kategorie nach wie vor Vorsicht walten.
Unter diesem Gesichtspunkt geben Wandelanleihen fast das Spiegelbild von Hochzinsanleihen ab. Das aktionärsfreundliche Verhalten käme dem in Wandelanleihen enthaltenen Aufwärtspotenzial von Aktien zugute. Ein Vorbehalt, den man jedoch bei Wandelanleihen beachten sollte, ist ihre spezielle Branchenallokation (angesichts der begrenzten Anzahl von Emittenten aus dem Banken-, Versicherungs- und Materialensektor). Da sich der Aufwärtstrend bei Aktien nicht immer direkt in einen Aufwärtstrend bei Wandelanleihen übertragen lässt, bleiben wir gegenüber dieser Anlageklasse vorerst neutral eingestellt.
Abschließend möchten wir auf das schnell wachsende Universum von nachhaltigen Anleihen hinweisen. Das gestiegene Bewusstsein hinsichtlich der notwendigen Unterstützung von Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen hat sowohl die Nachfrage der Anleger angetrieben als auch regulatorische Änderungen nach sich gezogen. Dies wiederum hat dazu geführt, dass immer mehr Regierungen und Unternehmen „grüne“ Anleihen in Rekordhöhe emittieren. Diversifizierungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Emittententyp, das Kreditrating, die geografische Lage und Art der Nachhaltigkeitsanleihen (grüne Anleihen, soziale Anleihen usw.) sind reichlich vorhanden. Wir gehen davon aus, dass die Anzahl der Emissionen im Jahr 2022 weiter steigen wird. Mit Blick auf das neue Jahr, das zweifellos einige Überraschungen bereithalten wird, werden sich die bewährten ESG- und fundamentalen Analyseprozesse von DPAM sowie die aktive Anleihenauswahl als unschätzbar wertvoll erweisen.
Sam Vereecke, CIO Fixed Income bei DPAM