Rückblickend war die Debatte über Basis- versus Risikoszenarien seit der Großen Finanzkrise von 2008/2009 sinnlos. Dominante Währungsbehörden führten zu einem risikofreudigen Basisszenario an den Finanzmärkten. Fast ununterbrochen umfangreiche Programme zum Ankauf von Vermögenswerten durch die Zentralbanken ließen die Wirkung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in den Hintergrund treten. In den vergangenen 13 Jahren kam es zu einer Vermögenspreisinflation, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nur selten beobachtet wurde. Meistens waren die makroökonomischen Risikoszenarien nur von kurzer Dauer oder wurden auf länderspezifische bzw. regionale Spannungen zurückgeführt. Nicht einmal die stärker synchronisierte Wachstumsverlangsamung in den Schwellenländern zwischen Mitte 2013 und 2016 konnte die Globalisierung destabilisieren. Der starke deflationäre Schock und der globale Wachstumsrückgang, der die Welt im ersten Quartal 2020 mit dem Ausbruch der Pandemie traf, war angesichts der immensen Liquiditätsbereitstellung durch die Zentralbanken nur von kurzer Dauer.
Der anhaltende Interventionismus der Zentralbanken verwischte die Grenzen zwischen Basis- und Risikoszenarien. Im Folgenden reflektiere ich mit etwas Abstand die Dynamik der Erstellung von Basis- und Risikoszenarien auf drei Ebenen: Die Sicht der Ökonomen auf den globalen makroökonomischen Ausblick, die Sicht der für die Portfoliokonstruktion verantwortlichen Akteure sowie die Ansichten und Einstellungen der jeweiligen Anlegergruppen.
Das Narrativ eines Basisszenarios für die Weltwirtschaft basiert auf der Feststellung, dass das reale Wachstum in den entwickelten bzw. Schwellenländer-Volkswirtschaften in den Jahren 2022 und 2023 über den historischen Durchschnittswerten liegen wird, während sich die Arbeitsmärkte erholen. Anhaltende Engpässe auf der Arbeits- und Angebotsseite der Wirtschaft haben die globale Inflation auf ein unangenehm hohes Niveau getrieben. Die einzige Ausnahme ist China, das nach dem Platzen einer Immobilienblase zu einer ‚weichen Landung‘ gezwungen ist. Ähnlich erging es Japan Ende der 1980er Jahre. Tatsache ist, dass sich die Ökonomen darauf geeinigt haben, dass die Zentralbanken ihre Geldpolitik straffen müssen. Ihr Basisszenario in Bezug auf künftige Leitzinserhöhungen der Fed geht von vier Zinsschritten im Laufe des Jahres 2022 aus, gefolgt von weiteren drei bis vier Zinsschritten im Jahr 2023. Dass die FED im laufenden Jahr auch mit der Verkürzung ihrer Bilanz beginnen wird, ist unbestritten. Mir fällt auf, dass sich die Entwicklung von Risikoszenarien weniger auf den Konsens bezüglich des Zinserhöhungspfads konzentriert, sondern eher auf externe Ereignisse wie eine ‚harte Landung‘ Chinas, neue COVID-19-Varianten oder geopolitischen Stress, der das Wachstum destabilisiert. Daraus ergeben sich wenig differenzierte Basisszenarien, d.h. sie konzentrieren sich auf einen Anstieg der FED-Leitzinsen in den nächsten zwei Jahren in Richtung einer Spanne von 2,00 bis 2,50 %. Dies könnte zu einem Anstieg der Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen in Richtung 2,25 % führen. Die Bloomberg-Konsensprognose der Volkswirte für 10-jährige US-Renditen per Ende 2022 liegt mit 2,13 % genau zwischen den 2,01 %, die für entsprechende 1-Jahres-Forwards angesetzt werden, und den häufig genannten 2,25 %. Das folgende Risikoszenario wird nur selten angeführt: Was wäre, wenn die FED die Zinssätze in diesem Jahr sieben Mal in Folge anhebt, beginnend mit der Sitzung des Offenmarktausschusses am 16. März? Das würde die US-Leitzinsen bis zum 14. Dezember in Richtung 1,75% bis 2,00% treiben. Natürlich sind sich die FED-Gouverneure und insbesondere der Vorsitzende Jerome Powell sowie die Co-Vorsitzende Lael Brainard der Auswirkungen bewusst, die ein solches Szenario auslösen könnte. Es würde die Märkte in Aufruhr versetzen. Diese Überlegung bringt uns zurück zum Konsens von vier Zinserhöhungen. Unterstellt man eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit für vier Anhebungen und eine 20-prozentige für sieben Erhöhungen, landet man bei 1,275 %, entsprechend einem Pfad von fünf Zinsschritten im Jahr 2022. Interessant, denn dieser Pfad würde den Glaubwürdigkeitsstatus der FED besiegeln. Eine solche Straffung würde zusammen mit einer sinkenden Verbraucher-Kerninflation in Richtung der FED-Schätzung von 2,7 % zum Jahresende das Beste aus beiden Welten bieten. Die Märkte könnten sich stabilisieren, und die 10-jährige Rendite würde weniger unter Aufwärtsdruck geraten als heute befürchtet. Realrenditen dürften sich stärker normalisieren als Nominalrenditen.
Damit sind wir bei der zweiten Ebene angelangt, und zwar mit Blick auf das Basis- versus Risiko-Szenario im Rahmen der Portfoliokonstruktion. Offene Liquiditätsschleusen sorgten zwischen 2009 und 2021 für eine starke Wertentwicklung passiver, indexierter Anlagelösungen (passive Fonds und ETFs). Aktive Manager mussten in ihrer engen, auf Überzeugung basierenden Portfoliokonstruktion erstklassig sein, um ihre Benchmarks oder Referenzindizes zu schlagen. Eine defensive Ausrichtung war nicht erforderlich. Der optimale Weg war das Ausnutzen des Markt-Betas.
Da wir uns auf eine übergreifende Straffung durch die Zentralbanken der Industrie- und Schwellenländer vorbereiten, könnten die einfachen Zeiten vorbei sein. Passive Lösungen, selbst wenn sie über Anlageklassen hinweg gut diversifiziert sind, könnte nun „die zweite Geige spielen“. Aktive Manager, die bewiesen haben, dass sie in Momenten der Risikoaversion und des Marktstresses gut bestehen können, sollten Rückenwind von smarten Fonds-Selektoren erhalten. Aktive Anleger haben in den letzten zehn Jahren nach Absicherung Ausschau gehalten. Risikoindikatoren wie VIX-Index-Futures haben ein starkes ‚Contango‘ gezeigt (höhere Futures- als Kassapreise), aber auch eine starke Verzerrung, da die Optionskosten, zu denen man sich absichern kann (durch höhere implizite Volatilität), mit der Zeit aggressiv ansteigen. Ähnliche Profile gibt es bei Aktien, Indizes für Unternehmensanleihen oder wichtigen Währungspaaren. Mehr als ein Jahrzehnt lang war die Unsicherheit stets präsent. Doch war diese Paranoia in der Tat etwas unangebracht, da der Zentralbank-„Put“ garantiert war. Dennoch blieben aktive Manager wachsam und kauften Absicherungen. Eine solche Haltung könnte sich in Zukunft besser auszahlen.
Das Narrativ des Basisszenarios bereitet uns auf die letzte Phase der Pandemie vor. Die Gesundheitskrise wird endemisch. Jährliche Impfungen, bessere Behandlungen und leicht einzunehmende Medikamente werden den Lösungsmix darstellen. Die Zentralbanken der Schwellenländer haben im Laufe des Jahres 2021 mit der Straffung der Geldpolitik begonnen. Auch einige Zentralbanken der Industrieländer (Vereinigtes Königreich, Neuseeland, Norwegen) haben den Zyklus eingeleitet. Die Bank of Canada wird Ende Januar damit beginnen. Diesmal ist es anders. Viele, sogar die meisten Marktteilnehmer haben noch nie einen synchronisierten globalen geldpolitischen Straffungszyklus erlebt. Eine solche Episode steht uns bevor.
Auf einer dritten Ebene bewerten wir das Verhalten institutioneller Endanleger in Bezug auf aktive, passive und weniger liquide alternative Lösungen gegenüber dem Verhalten der Privatanleger. Institutionelle Anleger, die sich für eine passive Lösung auf den Aktien- und Anleihenmärkten in Kombination mit illiquiden Alternativen entschieden haben, könnten über die Robustheit ihrer Mischung ins Grübeln geraten, sobald Risikoszenarien eintreten. Illiquide Anlagelösungen in den Bereichen Private Equity, Private Debt, Leveraged Loans oder Infrastruktur haben ebenfalls von der durch Zentralbanken reichlich vorhandenen Liquidität profitiert. Selbst wenn keine täglichen Preisfeststellungen erfolgen, haben sich die Bewertungen dieser Anlagen ebenfalls erhöht. Wenn sich die Bewertungen alternativer Anlagen nach unten bewegen, könnte ein fehlendes Drawdown-Management der liquiden Komponenten die Portfoliokennzahlen schnell nach unten drücken. Positiv zu vermerken ist, dass institutionelle Akteure überwiegend zyklusübergreifend investieren und nahezu vollständig investiert bleiben.
Für den Privatanleger, der in den letzten zwei Jahren mit großer Überzeugung in den Markt eingestiegen ist, ist Panik kein guter Ratgeber. Ein Ergebnis, bei dem private Anleger in der Breite verkaufen, könnte jedoch unmittelbar bevorstehen, sobald die strafferen finanziellen Bedingungen zu niedrigeren Bewertungen führen.
Nach mehr als einem Jahrzehnt steigender monetärer Wasserstände treten wir in eine Phase fallender Pegel ein. Die Flut wird von der Ebbe abgelöst. Differenzierung und Zuweisung von Wahrscheinlichkeiten neben Basis- und Risikoszenarien werden die Spreu vom Weizen trennen. Ökonomen, professionelle Vermögensverwalter und institutionelle bzw. private Endanleger werden sich bei der Navigation durch die künftigen Marktbedingungen unterschiedlich verhalten.
Passive Lösungen könnten als schnelles und einfaches Mittel für den Erhalt und die Vermehrung von Kapital an Bedeutung verlieren. Selektivität, Überzeugung und Drawdown-Management-Fähigkeiten echter aktiver Investmentmanager verdienen mehr Aufmerksamkeit.
Peter De Coensel, CEO von DPAM