Der Goldman-Sachs-Financial-Conditions-Index (GS FCI) erreichte am 9. November 2021 mit 96,92 ein Allzeittief. Seitdem haben sich die finanziellen Bedingungen verschärft. Der FCI liegt heute bei 97,84. Der Höchststand des FCI wurde Anfang Februar 2021 mit 97,98 erreicht, als die 10-jährigen US-Zinsen im ersten Quartal von 0,92 % auf 1,75 % stiegen. Damals wurde die Verschärfung der finanziellen Bedingungen in den USA durch steigende 10-Jahres-Zinsen und einen stärkeren US-Dollar getrieben. Die Aktienperformance war solide, und die Kreditspreads für Unternehmensanleihen stagnierten im ersten Quartal.
Die kurzzeitige Verschärfung der finanziellen Bedingungen im ersten Quartal 2021 war nicht breit angelegt. Diesmal ist sie jedoch auf breiter Basis. Schauen wir uns zunächst die Definition des Financial Conditions Index an.
Der GS FCI ist als gewichteter Durchschnitt der risikolosen Renditen, des Wechselkurses, der Aktienbewertungen und der Kreditspreads definiert, wobei die Gewichtung den direkten Auswirkungen der einzelnen Variablen auf das BIP entspricht. Dieser Index wird für alle Regionen und Länder berechnet. Wenn man "finanzielle Bedingungen" hört, denkt man an diese vier Variablen (Höhe der Renditen, Wechselkurs, Aktienmarktniveau und Kreditspreads für Unternehmen). Vergessen Sie aber nicht, deren Richtung und Impuls mit der mittelfristigen Veränderung des Wirtschaftswachstums zu verbinden, den diese haben einen Einfluss auf die Produktionslücke oder die (positiven und negativen) Abweichungen des Wachstums vom Potenzial. In den vergangenen 40 Jahren lag der GS FCI in den USA im Durchschnitt bei 100,60. Seit der „Großen Finanzkrise“ von 2009 liegt der Index bei durchschnittlich 99,60. Rechnen Sie mit einer Umkehr des Mittelwerts, wenn die Zentralbanken ihre akkommodierende Politik zurückfahren.
Die geld- und fiskalpolitischen Anreize, die die USA in den letzten zwei Jahren gesetzt haben, haben zu einer positiven Produktionslücke geführt. Allerdings überraschte die Inflation als unangenehmer Nebeneffekt der Unterbrechung der Lieferkette nach oben. Die FED geht hier kein Risiko ein. Inflation und Inflationserwartungen müssen stabil bleiben. Die Inflationserwartungen haben sich normalisiert. Das Ziel ist erreicht. Seit Anfang des Jahres sind die 30-jährigen US-Inflations-erwartungen um 30 Basispunkte auf 2,12 % gesunken. Die 30-jährigen Realzinsen sind mit +0,12 % im positiven Bereich angekommen. Das ist ein Anstieg von etwa 70 Basispunkten seit Anfang Dezember. Die nominalen 30-jährigen US-Zinsen erhöhten sich seither nur um 50 Basispunkte auf 2,24 %. Die marktbasierten Inflationserwartungen haben sich wieder gefestigt. Der Kontrast zu der weit verbreiteten Annahme, dass die Gesamt- und Kerninflation weiter ansteigen wird, ist deutlich.
Als ob eine aggressive Straffung der Leitzinsen im Jahr 2022 und 2023, die von den Märkten eingepreist und von den Ökonomen kaum kritisiert wird, keine Auswirkungen auf die Inflation ... und das Wachstum haben wird. Die Märkte rechnen mit einer weichen Landung der Wirtschaft. Der Anstieg der langfristigen Nominalrenditen war in der Tat gedämpft und spiegelt eine Rückkehr zum Potenzialwachstum (1,8 % in den USA) und zur Zielinflation ohne Probleme wider.
Was aber passiert, wenn sich die anderen drei Komponenten der finanziellen Bedingungen weiter "verschlechtern" oder verschärfen? Die Auswirkungen auf Konsum und Investments könnten in den nächsten Jahren schlimmer ausfallen als derzeit erwartet. Die Rezession könnte eher früher als später in Erscheinung treten.
Es ist in der Tat erwähnenswert, dass sich die Investment Grade- (IG)- und High-Yield- (HY) Kreditspreads in den USA und der EU seit Jahresbeginn ausgeweitet haben. Für Unternehmensanleihen mit Investment Grade Rating (IG) rechnen wir an den Kassamärkten in der EU und in den USA mit einem Anstieg von etwa 50 Basispunkten. Bei den IG-Credit-Default-Swap- (CDS) Indizes überschreiten wir die 70 Bp-Marke, während wir Ende 2021 unter 50 Bp notierten. Die Nervosität der HY-Anleger ist noch deutlicher zu spüren. Die Cash-Spreads bei HY sind in den USA und der EU um 85 Bp auf 365 Bp bzw. 345 Bp gestiegen. Die Auswirkungen auf die Finanzierungskonditionen der Unternehmen sind real.
Die Aktienmärkte suchen nach Beweisen, dass der bevorstehende geldpolitische Erhöhungszyklus nicht zu einem politischen Fehler führen wird, der eine Boom-Bust-Sequenz (Ein Boom-Bust-Zyklus bezeichnet die schlagartige Rezession nach einer länger andauernden Hochphase) zur Folge hat. Die Aktienmärkte haben die Realzinsen fest im Blick. Alle DCF- (Discount Cash Flow) Modelle bewerten die Sensitivität der Wachstumsraten der Unternehmens-einnahmen und -ausgaben sowie der Kapitalkosten bei der Diskontierung künftiger Unternehmens-Cashflows auf die Gegenwart. Das zyklisch bereinigte Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis (CAPE) des S&P 500 Aktienindex (Kurs-Gewinn-Verhältnis, das auf den durchschnittlichen inflationsbereinigten Gewinnen der letzten 10 Jahre basiert) lag Ende der Woche bei 35,59. In den letzten 100 Jahren lag das mittlere CAPE PE bei einem Vielfachen von 17. Der Höchststand wurde Ende 1999 mit einem Vielfachen von 44 erreicht.
Fairerweise muss man sagen, dass wir in allen Sektoren ein hohes Maß an technologischer Innovation von Unternehmen erlebt haben, die einen soliden freien Cashflow und eine robuste Rentabilität aufweisen. Außerdem führte die über ein Jahrzehnt andauernde Nullzinspolitik (ZIRP/ zero interest rate policy) zu einem ständigen Anstieg der Multiplikatoren. In den wichtigsten US-Aktienindizes übertraf die Zahl der Qualitäts-Wachstumsunternehmen die Zahl der historisch definierten Value-Unternehmen. Darüber hinaus müssen sich Value-Unternehmen häufig in Wachstums-Unternehmen umwandeln, da ihre Geschäftsmodelle von etablierten globalen Qualitäts-Wachstumsunternehmen angegriffen und in Frage gestellt werden. Tatsache ist, dass die Nullzinspolitik in den USA und die Negativzinspolitik in der EU zu einer Fehlallokation von Kapital geführt haben. Die derzeitige Korrektur am Aktienmarkt ist eine gesunde Anpassung. Es ist zu erwarten, dass sich die Märkte konsolidieren werden, wenn die Zentralbanken zur Normalität zurückkehren.
Der letzte Faktor, der die finanziellen Bedingungen beeinflussen könnte, ist die Währung. Eine aufwertende Währung könnte die Exporte belasten, gleichzeitig aber auch die importierte Inflation begrenzen. Man sollte also die Währungseffekte als einen Residualfaktor betrachten. In einem globalisierten Handelsumfeld halten sich die negativen und positiven Auswirkungen auf Wachstum und Inflation die Waage. Wenn wir uns an der Geschichte orientieren, sollten wir mit einer weniger energischen EZB und einer unerschütterlichen FED rechnen. Der Weg des geringsten Widerstands ist USD-unterstützend, was das EURUSD-Paar auf eine Prüfung von 1,10 in den kommenden Quartalen vorbereitet.
Die Verschärfung der finanziellen Bedingungen in den Industrieländern ist breit angelegt. Bei der Portfoliokonstruktion ist eine Ausrichtung auf Qualität gerechtfertigt. Der Großteil der Verschärfung an den Schwellenländermärkten fand 2021 statt. Die Berücksichtigung einer Neigung zugunsten von Emerging-Markets-Anlagen kann den Kapitalerhalt in einem schwierigen Jahr 2022 unterstützen.
Peter De Coensel, CEO von DPAM