Vor den Präsidentschaftswahlen 2023 in Argentinien behaupteten besorgte Ökonomen, Javier Mileis Politik stelle eine existenzielle Gefahr für die Zukunft des Landes dar. Auf den ersten Blick schienen die Bedenken berechtigt. Sein Programm sah die vollständige Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft und die Schließung der Zentralbank vor. Angesichts der chronischen Hyperinflation, wiederkehrenden Schuldenkrisen und des stagnierenden Wachstums des Landes warnten Kritiker, Mileis radikale Ideen würden den wirtschaftlichen Niedergang des Landes nur beschleunigen.
Dennoch bescherten ihm die Wähler den Sieg, vor allem als Ablehnung des Status quo. Mileis neue Partei La Libertad Avanza (LLA) konnte hingegen kaum von seinem Erfolg profitieren. Indem er sich die einflussreichen Gouverneure des Landes zu Verbündeten machte, sich auf Koalitionen im Parlament stützte und die Macht der Exekutive bis an ihre Grenzen (und wohl auch darüber hinaus) ausdehnte, setzte Milei seine vollständige Umgestaltung der argentinischen Wirtschaft mithilfe eines dreistufigen Plans dennoch durch.
Phase 1: Schocktherapie und Sparpolitik (Dezember 2023)
Mileis Reformplan begann mit einer «Schocktherapie». Der offizielle Wechselkurs wurde von 400 auf 800 Pesos pro Dollar abgewertet, um ihn stärker an die Marktkurse anzupassen. In Verbindung mit Steuerreformen führte das zu einer zunehmenden Exportorientierung. Preisobergrenzen, unter anderem für öffentliche Versorgungsleistungen und Immobilienmieten, wurden aufgehoben. Auch die Staatsausgaben wurden drastisch reduziert: Tausende von Beamten wurden entlassen, die Sozialausgaben wurden gekürzt, Subventionen gestrichen und öffentliche Bauvorhaben aufgegeben. Die Regierung halbierte die Zahl der Ministerien von 18 auf neun, lockerte das Arbeitsrecht und hob Hunderte von Vorschriften auf. Staatliche Unternehmen wurden für den Verkauf freigegeben.
Das Ergebnis: Der erste Haushaltsüberschuss seit über einem Jahrzehnt – allerdings bei einer Rekordinflation von 25,5% im Dezember 2023. Bis Januar 2025 sank die monatliche Inflation jedoch auf ein Dreijahres-Tief von 2,2%. Die Armutsquote stieg Anfang 2024 auf 55%, sank später im Jahr wieder auf 38%.
Phase 2: Währungsstabilisierung und Finanzreformen (Juni 2024)
Im Juni 2024 begann die zweite Phase, deren Schwerpunkt auf der Währungsstabilisierung und der finanziellen Restrukturierung lag. Unter anderem wurde die Zinslast für bestimmte Finanzinstrumente von der Zentralbank auf das Finanzministerium übertragen. Davor zahlte die Zentralbank den lokalen Banken hohe Zinsen als Anreiz, ihr Geld dort zu parken, anstatt es zu verleihen. Das hätte die Geldmenge reduzieren und die Inflation eindämmen sollen. Die Zentralbank finanzierte die hohen Zinszahlungen jedoch hauptsächlich durch neu gedrucktes Geld – was die Inflation weiter anheizte. Durch die Übertragung der Zinslast auf das Finanzministerium wurde die Geldpolitik vom inflationären Finanzierungsdruck entkoppelt.
Phase 3: Währungsliberalisierung und globale Integration (April 2025)
Im Januar 2025 hob Moody's Argentiniens Kreditwürdigkeit von «Ca» auf «Caa3» an und änderte den Ausblick für das Land von «stabil» auf «positiv». Das Land spielte auch eine entscheidende Rolle beim Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Der argentinische Devisenmarkt wurde liberalisiert. Der Dollar wird nun je nach Angebot und Nachfrage innerhalb einer flexiblen Bandbreite zwischen 1’000 und 1’400 ARS pro USD frei gehandelt. Diese Bandbreite wird jeden Monat um 1% erweitert, um den Devisenmarkt schrittweise zu öffnen. Gleichzeitig wurden die Devisenkontrollen für Privatpersonen aufgehoben, Unternehmen dürfen Gewinne ins Ausland transferieren und die Vorschriften für die Bezahlung von Importen und Exporten werden gelockert.
Zudem unterzeichnete die Regierung ein historisches Abkommen über 20 Mrd. USD mit dem IWF. Davon stehen 15 Mrd. USD für den Rückkauf von Staatsanleihen zur Verfügung. Weitere 6,1 Mrd. USD kommen von anderen internationalen Kreditgebern und bis zu 2 Mrd. USD in Form kurzfristiger Kredite von Banken. Damit könnten sich die Liquiditätsreserven der Zentralbank bis 2025 um 23,1 Mrd. USD erhöhen. Zudem wurde der 5-Milliarden-Dollar-Währungsswaps mit China um ein weiteres Jahr verlängert.
Wachstumsschmerzen
Auf dem Papier zeigen Mileis Reformen erste Ergebnisse. Doch der Lebensstandard sinkt deutlich. Die Gesundheitskosten sind in die Höhe geschnellt, die Renten wurden gekürzt und viele Sozialprogramme abgebaut. Der Massenkonsum in Argentinien ging im Februar 2025 gegenüber dem Vorjahr um 10,2% zurück, das ist der fünfzehnte Rückgang in Folge. Besonders deutlich wird das beim Appetit auf Fleisch: Einst einer der weltweit größten Rindfleischkonsumenten, sank der durchschnittliche Konsum in Argentinien von einem langfristigen Durchschnitt von 73 kg auf nur noch 48,5 kg pro Person im Jahr 2024.
Milei setzt seine Agenda mit harter Hand durch. Er erteilte den Bundekräften weitreichende Befugnisse zur Auflösung von Protesten gegen die Sparmaßnahmen und weitete wiederholt seine Exekutivrechte aus. Kritiker warnen daher vor einer Erosion der demokratischen Institutionen. Hinzu kommen Mileis mögliche Verwicklung in zwei Kryptoskandale (Libra und CoinX) und Vorwürfe, er habe Kandidatenplätze innerhalb seiner eigenen Partei verkauft.
Die langfristigen Auswirkungen der Zwischenwahlen
Die Zwischenwahlen am 26. Oktober werden für die Zukunft des Präsidenten und seine Reformagenda entscheidend sein. Doch mehrere Provinzen halten vor den nationalen Wahlen eigene lokale Zwischenwahlen ab. In Buenos Aires erzielte Mileis Partei LLA dabei über 30% der Stimmen, trotz einer rekordtiefen Wahlbeteiligung. Doch sollte die LLA nicht genügend Sitze im Kongress und im Senat erringen, könnte die Opposition Mileis Machtkonzentration in Frage stellen, seine Sonderbefugnisse aufheben oder gar ein Amtsenthebungsverfahren einleiten.
Sofern die LLA und Milei das Vertrauen der Öffentlichkeit aufrechterhalten, Skandale vermeiden und autoritäre Tendenzen eindämmen, sieht die Zukunft für Argentinien günstig aus. Die Auswirkungen der Wirtschaftsreformen könnten mit einem Umschwung im Energiesektor zusammenfallen. Mit der Erschließung der Öl- und Gasfelder von Vaca Muerta hat Argentinien ein Energiedefizit von 4,5 Mrd. USD im Jahr 2022 in einen Überschuss von 5,6 Mrd. USD verwandelt, der bis 2030 auf bis zu 20 Mrd. USD ansteigen dürfte. Parallel zur verstärkten Ölförderung werden Pipelines und die LNG-Infrastruktur ausgebaut. Zudem lassen neue Lithium- und Kupferprojekten Milliardenumsätze erwarten.
Der Ausblick für Argentinien ist vielversprechend, doch die Grundlagen sind fragil. Ob sich Mileis Glücksspiel auszahlt, hängt von den wirtschaftlichen Ergebnissen, der politischen Widerstandsfähigkeit und der Toleranz der Bevölkerung ab.
Von Michaël Vander Elst, Fondsmanager für Schwellenländer-Anleihen bei DPAM