So groß wie aktuell war das Krisenempfinden wohl selten, zuletzt vielleicht während der globalen Finanzkrise 2008-09. Wir scheinen durch ein Minenfeld zu steuern. Einige Minen sind auf Anhieb gut zu erkennen: Inflation, Zinserhöhungen und, etwas weiter hinten, eine Rezession. Andere sind leicht zu übersehen, weil sie tief im Gras liegen. Das sind die geopolitischen Risiken, die wir schlecht einschätzen können: der Klimawandel, die US-chinesischen Beziehungen und der mögliche Konflikt um Taiwan, die bittere und brutale Invasion der Ukraine durch Russland.
Was die makroökonomischen Verschiebungen im vergangenen Jahr angeht, ist die entscheidende Frage für viele Beobachter, ob sich die Inflation nur durch eine Rezession in den Griff bekommen lässt. Tatsächlich wird eine Rezession in vielen Volkswirtschaften, insbesondere in Europa, aber auch in den USA, immer wahrscheinlicher.
Für Anleger macht das einen Riesenunterschied. Bärenmärkte mit Rezession sind in der Regel mit größeren Kursverlusten verbunden als Bärenmärkte ohne Rezession. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Aktienmärkte in Rezessionen im Mittel einen Kursverlust von 24% verzeichnet. Diesen Verlust hatten wir bereits Mitte Juni 2022 erreicht. Damit haben die Märkte eine milde Rezession bereits voll eingepreist. Eine tiefe Rezession könnte zu einer weiteren zweistelligen Kurskorrektur führen. Mein Basisszenario ist das allerdings nicht.
Ich halte eine lediglich milde Rezession in den USA für das weitaus wahrscheinlichere Szenario. Warum? Ganz einfach: Weil wir aktuell keinesfalls dieselbe Situation wie während der Finanzkrise 2008 haben. Einer der Hauptauslöser der globalen Finanzkrise war eine exzessive Verschuldung. Diese Problematik haben wir aktuell in der Form nicht. Die Unternehmen sind weniger verschuldet, die Banken viel besser kapitalisiert und die Verschuldung der privaten Haushalte in den USA liegt bei etwa 75% des BIP, gegenüber fast 100% am Vorabend der Finanzkrise. Insgesamt verfügen die Amerikaner über einen Sparüberschuss von etwa 2 Billionen Dollar – das sind 9% des BIP.
Auch die Inflation muss uns meiner Ansicht nach weniger Sorgen machen, als sie es aktuell tut. Natürlich rückt die reale Rendite in Zeiten wie diesen stärker in den Fokus. Wie schmerzhaft eine hohe Teuerung für Anleger sein kann, wissen wir aus den 1970er Jahren: In den 50 Jahren von 1971 bis 2021 minderte die Inflation die annualisierte US-Dollar-Rendite des S&P 500 Index um 4,2 Prozent – im Zeitraum 1971 bis 1980 machte die Teuerung aus einer positiven nominalen Rendite von 7,7 Prozent eine negative reale Rendite von -0,8 Prozent.
Doch wir haben deflationäre Kräfte auf unserer Seite. Das Wachstum der Geldmenge M2 in den USA hat sich bereits deutlich verlangsamt, in der Eurozone geht der Trend in die gleiche Richtung. Durch die erkennbare Entspannung in den globalen Versorgungsketten wird auch die Wareninflation wieder vermutlich nachlassen. Bei den Energiepreisen dürfte der Trend kurz- bis mittelfristig ebenfalls wieder nach unten zeigen – und langfristig gibt es hier ohnehin Entwarnung, weil es genug Gas auf der Erde gibt, bis wir die Netto-Null erreicht haben. Eine weitere deflationäre Wirkung geht vom Tech-Sektor aus, in dem zum Beispiel die Kosten der Informationsspeicherung und DNA-Sequenzierung in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv gesunken sind.
Aus Sicht des um seine reale Rendite besorgten Anlegers spricht meiner Meinung nach daher alles für langfristiges Investieren – denn damit relativiert sich auch der Inflationseffekt. Zudem gibt es eine ganze Reihe extrem spannender Themen, die Investoren mit einem langfristigen Anlagehorizont schon jetzt aufgreifen können.
Zum einen spricht meiner Ansicht nach weiterhin vieles für US-Aktien, allein, weil die USA ihre Sonderstellung behalten dürften und immer noch eines der innovativsten Länder auf unserem Planeten sind. Die traditionelle Stärke dieses Marktes spiegelt sich auch in der historisch starken Outperformance von US-Aktien im Vergleich zu anderen Regionen wider.
Die USA sind autarker und robuster als andere Volkswirtschaften und aggressiv auf Wachstum ausgerichtet. Zudem profitieren sie von der Energiekrise in Europa: Die USA sind seit 2020 ein Nettoölexporteur und seit 2022 der weltgrößte LNG-Exporteur. Hinzu kommen massive Investitionen in saubere Energie und ein vor kurzem verabschiedetes 1,2-Billionen-Dollar-Investitionspaket für die Modernisierung der Infrastruktur, das zu einer Renaissance in der Industriepolitik führt. Gleichzeitig führen eine attraktive Körperschaftsteuer von 21 Prozent in Verbindung mit gezielten steuerlichen Subventionen – Stichwort „Buy American“ – zu Direktinvestitionen aus dem Ausland, um vor Ort zu produzieren.
Auch der technologische Wettbewerb mit China um die globale Vormachtstellung in Bereichen wie Mikrochips, Elektrofahrzeuge, Batterien, Halbleiter oder Quantencomputer wirkt sich bislang positiv auf das US-Wachstum aus. Ich halte die USA in diesem Wettkampf für gut aufgestellt – nicht zuletzt, weil demokratische Strukturen mit einer funktionierenden Gewaltenteilung noch immer der beste Nährboden für Kreativität und Innovation sind und der reibungslose und zivilisierte Verlauf der „Midterms“ in den USA gezeigt hat, dass dieses System in den USA immer noch funktioniert.
Eine weitere interessante Region ist der Nahe Osten. Dank der Sanktionen gegen Russland werden die sechs Golfstaaten in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich 3,5 Billionen USD zusätzlich verdienen – und die Gewinne aus Öl und LNG fließen direkt in Nachhaltigkeitstechnologien wie Wasserstoff oder Entsalzungsanlagen. Der wohl spannendste Markt der Region ist Saudi-Arabien, wo die IPO-Flut, die diesen Markt im letzten Jahr zu einem der interessantesten Märkte für Börsengänge gemacht hat, wahrscheinlich nicht abebben wird. Über Anlagen mittels MSCI Saudi Arabia Index können sich auch Privatanleger an diesem Markt engagieren. Dieser hat 2021 eine Rendite von rund 38% geliefert und auch 2022 deutlich besser abgeschnitten als der MSCI EM.
Auf Branchenebene bietet eines Erachtens insbesondere der Bereich Luft-/Raumfahrt und Verteidigung als Sektor, der Innovation mit Qualität in Form von etablierten Industrieunternehmen vereint, langfristig großes Potenzial. Anlagen in den Verteidigungssektor mögen auf den ersten Blick politisch nicht korrekt sein, doch ich glaube, wir sollten hier die ESG-Scheuklappen ablegen. Schließlich reden wir hier nicht über Handwaffen, Clusterbomben, Bio-, Chemie- oder Atomwaffen, sondern über hochmoderne Verteidigungssysteme, um Staaten vor völkerrechtswidrigen Angriffen skrupelloser Aggressoren zu schützen.
Ein weiteres riesiges Thema ist die Energiewende, die durch die jüngsten Entwicklungen und die dadurch befeuerten Bemühungen um Energieunabhängigkeit zusätzlichen Rückenwind erhalten hat. Die Umstellung auf saubere Energie ist in vollem Gange, die Kosten für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen sinken weiter.
Schließlich ist die wohl kaum mehr zu bremsende digitale Revolution mit dem Anbruch des Blockchain-Zeitalters und Aufbau des Metaversums ein Themenkomplex, der Anlegervermutlich weiter beschäftigen wird. Besonderes Potenzial sehe ich hier in den Bereichen Cloud-Computing und Cybersicherheit, die ein rasantes Wachstum verzeichnen und in jedem Szenario weiter an Bedeutung gewinnen dürften.
Was bedeutet all das für unseren Weg durch das aktuelle Minenfeld? Bei allem, was uns aktuell Angst machen kann, gibt es auch viele positive Entwicklungen, die Mut machen – und investierbar sind.
Von Dr. Henning Stein, Global Head of Thought Leadership & Market Strategy bei Invesco