Die EZB schlug im Rahmen der jüngsten Notenbanksitzung beim Wachstumsausblick einen sehr skeptischen Ton an. Zum einen geht sie davon aus, dass sich das Expansionstempo nach dem erfreulichen Start ins Jahr im 2. und 3. Quartal deutlich abschwächen wird. Zum anderen habe aber vor allem die geopolitische Unsicherheit im Vergleich zu den letzten Sitzungen zugenommen. EZB-Präsident Mario Draghi verwies dabei wenig überraschend auf den Handelsstreit (er spricht stets von den »Gefahren des Protektionismus«), den Brexit und die Verwundbarkeit der Emerging Markets.
Vor allem deutete Draghi aber an, dass als Folge der jüngsten Entwicklungen das Wachstum des Welthandels auf Dauer niedriger ausfallen könnte. Diese generellen Bedenken spiegeln sich auch in den neuen Wachstumsprognosen wider, die mit Blick auf die Jahre 2020 und 2021 überraschend auf recht bescheidene Werte von jeweils 1,4% nach unten korrigiert wurden.
In Anbetracht der pessimistischeren Einschätzung der Lage sah sich die EZB gezwungen, zusätzliche expansive Maßnahmen zu ergreifen. Insbesondere wurde die Forward Guidance bei den Zinsen weiter nach hinten verschoben. Die EZB verspricht nunmehr, am aktuell tiefen Leitzinsniveau bis mindestens Mitte 2020 festzuhalten (bisher: bis Ende 2019). Die Ausgestaltung der neuen Langfristtender fällt ebenfalls großzügig aus, was im Vorfeld aber bereits erwartet worden war. Banken erhalten demnach ab September 2-jährige Notenbankkredite unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Satz von -0,30% (Depositenrate +10 Bp).
Als wäre dies noch nicht genug, verwies Mario Draghi überdies darauf hin, dass sich einige Währungshüter für Leitzinssenkungen bzw. die Wiederaufnahme des QE-Programms stark gemacht haben. Ganz in diesem Sinne ließ er keinen Zweifel daran, dass die EZB diese Instrumente nutzen werde, wenn sich das wirtschaftliche Umfeld weiter verschlechtert. Mithin wurde klar, dass die Notenbank derzeit von einer Leitzinssenkung nicht weit entfernt ist. Auch nach dem Ende der Forward Guidance sah Draghi keinen »Bias« (Neigung) der Notenbank in die ein oder andere Richtung – man sei vollkommen neutral ausgerichtet. Auf die Nachfrage von Journalisten, ob die EZB gar keine geldpolitische Normalisierung mehr anstrebe, wich Draghi aus. Die Zeiten seien auf jeden Fall noch nicht »normal«, daher müsse darüber jetzt nicht diskutiert werden.
Wir wollen der EZB in ihrem Ausblick nicht völlig wiedersprechen. Wenn der Handelskonflikt tatsächlich in den nächsten Monaten keine Lösung findet bzw. sogar noch weitere Kreise zieht, wird dies das globale Wachstum belasten. Die Weltwirtschaft wird dann bis zum Jahresende in schwerem Fahrwasser bleiben, was die EZB zu weiteren geldpolitischen Lockerungen zwingen würde.
Sollten die Konfliktparteien aber doch zu einem Kompromiss finden, kann es auch sehr schnell in die andere Richtung gehen. Wir halten eine Lösung oder zumindest Eindämmung des Handelsstreits nach wie vor für sehr wahrscheinlich, weil sich selbst Donald Trump keine Wirtschaftskrise leisten kann. In diesem Fall wird sich die bereits angelegte globale Konjunkturerholung fortsetzen. Entsprechend würde sich auch das Wachstum der Eurozone wieder Richtung 2,0% bewegen. Damit wäre weiterhin die Basis für eine geldpolitische Normalisierung gegeben. Wir halten daher daran fest, dass die EZB nach dem Ende der Forward Guidance (nunmehr im 2. Halbjahr 2020) die Leitzinsen anhebt.
Daniel Hartmann, Chefvolkswirt, BANTLEON