Die Inflationsraten sind in den vergangenen Monaten weltweit kräftig angestiegen. In den USA schnellte die Vorjahresrate der Verbraucherpreise im Mai auf 5,0%, in der Eurozone immerhin auf 2,0%, nachdem sie hier im Dezember noch im Minus lag. In Schwellenländern wie Mexiko, Russland und Brasilien pendelt die Inflation mittlerweile zwischen 6% und 8%.
Die meisten Ökonomen und Notenbanker sehen im diesjährigen Teuerungsschub indes nur ein temporäres Phänomen, das mit der Corona-Pandemie verbunden ist. Nachhaltiger Inflationsdruck sei nicht zu befürchten. Laut dieser Mehrheitsmeinung sind zum einen die derzeit beobachtbaren Engpässe bei Vorprodukten und Rohstoffen schnell behoben. Zum anderen sei angesichts der weltweit hohen Arbeitslosigkeit keine Lohn-Preis-Spirale in Sicht.
Wir sind anderer Meinung. Bereits im Vorjahr haben wir darauf verwiesen, dass sich beim Thema Inflation eine Trendwende anbahnt (vgl. unsere Analyse vom 10.08.2020: Die Zeitenwende bei den Renditen ist da – und keiner hat’s gemerkt). Dafür verantwortlich sind der demografische Wandel (schrumpfende globale Erwerbsbevölkerung), die Deglobalisierung (Renationalisierung der Produktion) und die Rückkehr der expansiven Fiskalpolitik. Die Corona-Krise ist zum Katalysator dieser Entwicklung geworden. Wir gehen infolgedessen davon aus, dass die globale Teuerung auch 2022 und 2023 die Erwartungen übertrifft.
Für viele ist der Fall klar: Der aktuelle Inflationsanstieg ist primär »technisch« bedingt. Diejenigen Bereiche, die besonders von der Pandemie betroffen waren (Hotels, Flugverkehr, Teile des Einzelhandels, Freizeiteinrichtungen), mussten im vergangenen Jahr Preisabstürze hinnehmen (vgl. Abb. 1). Dieser Effekt kehrt sich jetzt um, woraus im Vorjahresvergleich ein markanter Anstieg resultiert.
Abb. 1: Nachholeffekte sorgen für Preisauftrieb
Quellen: BEA, BANTLEON
Das ist richtig. Allerdings gibt es keinen Grund, weshalb die Preiserhöhungen bereits in den nächsten Monaten zum Stillstand kommen und nicht auch andere Gütergruppen erfassen sollten. Die Unternehmen werden jedenfalls ein optimales Umfeld für Preisüberwälzungen vorfinden. Aus unserer Sicht trägt der Konjunkturboom bis weit ins nächste Jahr.
Abb. 2: Nachfrageseite sorgt für Preisdruck
Quellen: Eurostat, Markit, BANTLEON
Unsere Wachstumsprognosen für die USA und die Eurozone liegen bei 4% bis 5% (für 2022). Folglich werden die Einkaufsmanagerindizes deutlich über der Expansionsschwelle verharren, was in der Vergangenheit stets ein Vorbote für Preisdruck war (vgl. Abb. 2).
Abb. 3: Konsumboom vorgezeichnet
Quellen: BEA, BANTLEON
Motor des Aufschwungs sind die Konsumenten, die in den USA und Europa 2020/21 riesige Geldbeträge gebunkert haben. Allein in den USA beträgt der Sparüberschuss inzwischen über 2 Bio. USD (= 10% des BIP, vgl. Abb. 3). Mit dem weiteren Abflauen der Pandemie und dem wachsenden Vertrauen in die Erholung dürfte ein grosser Teil davon in den Konsum fliessen. Mithin werden ohnehin erst 2022 alle Urlaubswünsche in Erfüllung gehen und Kultur- und Freizeitveranstaltungen einen Höhenflug erleben. Die Preise für Flugtickets, Pauschalreisen, Besuche von Freizeitparks und Hotelaufenthalte werden dann weiter unter Aufwärtsdruck stehen.
Noch mehr als die Verbraucherpreise sind zuletzt die Erzeuger- und Rohstoffpreise in einen Aufwärtstrend eingeschwenkt. Für viele Analysten ist aber auch das nur pandemiebedingt. Demnach waren viele Unternehmen von dem plötzlichen Nachfragesog überrascht. Sie hatten sich auf eine lange Rezession eingestellt. Jetzt würden die Kapazitäten allerdings schnell wieder hochgefahren und damit sei ein Ende des Preisschubs absehbar.
Auch an dieser Stelle vertreten wir eine andere Sicht: Erstens wurde der Kostendruck, der sich auf den vorgelagerten Ebenen aufgebaut hat, noch gar nicht an die Verbraucher weitergegeben. Viele Unternehmen warten erst einmal mit Preiserhöhungen ab. Zum Teil profitieren sie noch von älteren Lieferverträgen mit günstigen Einkaufskonditionen. Es ist mithin ganz normal, dass sich der sogenannte »Pipeline Pressure« erst mit Zeitverzögerung in den Verbraucherpreisen niederschlägt (vgl. Abb. 4).
Zweitens wird das Hochfahren der Kapazitäten zur Beseitigung der Knappheiten bei Rohstoffen und Vorprodukten einige Zeit in Anspruch nehmen. In der Chipindustrie rechnen die Hersteller erst 2023 mit einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage. In der Zwischenzeit erzeugt der Ausbau der Fabriken und Produktionsanlagen einen zusätzlichen Nachfrageimpuls – allen voran bei Grundstoffen und Baumaterialien. Mit anderen Worten: Die anstehende Investitionsbelebung wird die Engpässe in vielen Wirtschaftsbereichen sogar noch verstärken.
Abb. 4: Kostendruck bei Verbrauchern noch nicht angekommen
Quellen: Eurostat, Markit, BANTLEON
Nicht zuletzt deshalb gehen wir drittens davon aus, dass der aktuelle Rohstoffboom anhält. Die weltweite Belebung wird die Nachfrage nach Kupfer & Co. weiter stützen. Unser »Global Liquidity Indicator« deutet lediglich auf eine Verlangsamung der Preiszuwächse, aber keinen Einbruch hin (vgl. Abb. 5). Im Ergebnis spricht viel dafür, dass die Unternehmen auch in den nächsten Quartalen mit Knappheiten und Kostensteigerungen konfrontiert sein werden.
Abb. 5: Rohstoffboom sollte vorerst anhalten
Quellen: Bloomberg, BANTLEON
Lohndruck – mehr als nur eine Fata Morgana
Dass derzeit ein gewisser Kostendruck besteht, ist für jeden ersichtlich. Die Inflationsskeptiker argumentieren jedoch, dass dies allein für einen nachhaltigen Teuerungsschub nicht ausreicht. Hier müssten überdies die Löhne mitspielen. Besonders bei den Dienstleistungen seien die Arbeitskosten entscheidend. Von einer Lohn-Preis-Spirale sei man aber noch weit entfernt. Schliesslich hätten die meisten Arbeitsmärkte mit den Pandemie-Folgen zu kämpfen. Das beste Beispiel hierfür seien die USA. Hier fehlten nach wie vor über 7 Mio. Stellen bis zum Vorkrisenniveau.
Abb. 6: Wachsender Lohndruck absehbar
Quellen: Destatis, BANTLEON
Aber auch diese Argumentation greift zu kurz. Nochmals sei daran erinnert, dass wir vor einem markanten Wachstumsschub stehen. In den USA dürfte bereits 2022 wieder Vollbeschäftigung herrschen, und in der Eurozone bzw. Deutschland ist die Arbeitslosenquote ohnehin nicht kräftig angestiegen und mittlerweile bereits wieder rückläufig (vgl. Abb. 6).
Folglich fällt auch der dämpfende Effekt auf die Löhne bescheiden aus. In Deutschland hat sich der Zuwachs – gemessen an den Tariflöhnen – zwar seit Anfang 2019 halbiert (von gut 3% auf 1,5%), er liegt aber weiterhin erkennbar im Plus (vgl. Abb. 6). Das gilt erst recht für die USA, wo das Lohnwachstum 2020/21 praktisch konstant geblieben ist (vgl. Abb. 7).
Noch bemerkenswerter sind die ersten Anzeichen für Lohndruck. Sowohl in den USA als auch in Europa haben die Unternehmen aktuell grosse Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung (vgl. Abb. 7). Parallel schnellt die Zahl der offenen Stellen in die Höhe.
All dies unterstreicht, dass die Coronavirus-Pandemie – anders als die Finanzkrise – keine tiefe Rezession verursacht hat. Ein langwieriges Nachbeben am Arbeitsmarkt dürfte ausbleiben. Es wird daher nicht Jahre, sondern nur ein Jahr dauern, bis die Löhne wieder anziehen.
Abb. 7: Rezession bei Löhnen kaum erkennbar
Quellen: Atlanta-Fed, NFIB, BANTLEON
Dazu tragen auch die höheren Inflationsraten und Inflationserwartungen bei. So werden etwa die Beschäftigten der deutschen Industrie 2021 – bei knapp 3% Inflation – aller Voraussicht nach Reallohneinbussen von 1% bis 2% erleiden, und dies bei sprudelnden Unternehmensgewinnen. Warum sollten sie sich darauf ein zweites Mal einlassen?
Alles in allem dürfte sich der entspannte Blick auf die diesjährige Inflation als Trugschluss erweisen. Erstens wird die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen auch 2022 hoch bleiben, was ideale Bedingungen für Preisüberwälzungen schafft. Zweitens wird der Kostendruck nicht gleich wieder abebben und drittens wird der Lohndruck schneller in Erscheinung treten, als es viele für möglich halten.
Hinzu kommen die langfristigen Effekte – etwa die weltweit schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Umgestaltung der globalen Lieferketten –, welche der Inflation zusätzlichen Auftrieb verschaffen. Ganz zu schweigen von den Investitionen in den Klimaschutz, die gerade erst anlaufen und den Nährboden für eine anhaltend expansive Fiskalpolitik bilden. Wer jetzt – wie etwa die EZB – daraufsetzt, dass die Inflation 2022/23 erkennbar unter 2% fallen wird, dürfte deutlich daneben liegen.
Dr. Daniel Hartmann, Chefvolkswirt, Bantleon