Es ist in aller Munde: Der Euro ist erstmals seit 2002 nur noch so viel wert wie ein US-Dollar. Gegenüber dem Schweizer Franken ist der Euro sogar seit über einer Woche unter die Parität gefallen. Zu Beginn der Währungsunion erhielt man noch stattliche 1,60 Franken für einen Euro. In der aktuellen Euro-Schwäche spiegelt sich fraglos die Energiekrise und die Gefahr eines kompletten russischen Gaslieferstopps. Sie ist aber auch Folge der laxen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Während alle angelsächsischen Notenbanken und viele direkte Nachbarn – unter anderem die Zentralbanken der Schweiz, Schwedens, Norwegens und Polens – an der Zinsschraube gedreht haben, zögert die EZB immer noch.
Dabei ist das Inflationsproblem in der Eurozone keineswegs kleiner als in anderen Regionen. Im Gegenteil: Mit 8,6% liegt die Teuerungsrate in etwa auf dem Niveau der USA, Kanadas, Großbritanniens und Schwedens beziehungsweise deutlich höher als in der Schweiz und Japan. Gleichzeitig befinden sich die Kerninflationsrate (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise) und die Lohnabschlüsse im Aufwind. Das jüngste Schlaglicht in dieser Richtung setzte die IG-Metall. Sie geht mit einer Forderung von 8% in die nächste Tarifrunde der deutschen Metall- und Elektroindustrie. Der Geist der Inflation ist in der Eurozone somit bereits aus der Flasche und die EZB wird es mit ihrem aktuellen Politikansatz schwer haben, ihn wieder einzufangen.
Um Reputation in der Inflationsbekämpfung aufzubauen, muss eine Notenbank auch unangenehme Entscheidungen treffen. Im Zweifel hat Preisstabilität Vorrang vor der konjunkturellen Entwicklung. Genau diese Linie verfolgt derzeit die Federal Reserve. Notenbankpräsident Jerome Powell räumte ein, dass die geldpolitischen Straffungen mit »Schmerzen« in der Realwirtschaft verbunden sein werden. Auch ein Abgleiten in die Rezession schließt er nicht aus. Langfristig sei es aber für die Wirtschaft besser, jetzt zu handeln und kleinere konjunkturelle Rückschläge hinzunehmen, als später den großen Knall zu riskieren. Die jüngste Leitzinsanhebung der Schweizer Nationalbank ist ebenfalls in diesem Sinne zu verstehen. Auch bei den Schweizer Währungshütern lautete das Motto: Lieber jetzt überschaubare Schmerzen in der Exportwirtschaft riskieren, als später die Zinskeule auspacken.
Die EZB hat dagegen die Chance verpasst, Reputation in der Inflationsbekämpfung aufzubauen. Sie nahm stattdessen Rücksicht auf die südeuropäischen Länder, deren Notenbankpräsidenten sich geschlossen für ein vorsichtiges und »graduelles« Vorgehen aussprechen. Zu stark ist die Furcht, dass erneut die Konjunktur abgewürgt wird und die Risikoaufschläge italienischer, spanischer oder griechischer Anleihen aus dem Ruder laufen. Wie deutlich hier auch nach wie vor die Präferenzen in der Bevölkerung auseinanderdriften, zeigt eine aktuelle Umfrage, wonach Inflation derzeit in Deutschland als Problem Nummer eins angesehen wird, in Italien dagegen nur an vierter Stelle steht.
Mit ihrem zögerlichen Kurs riskiert die EZB jedoch, den Euro langfristig als Weichwährung zu diskreditieren. Die aktuell bereits bestehende Unterbewertung gegenüber dem US-Dollar wird sich dann strukturell verfestigen. Dies mögen manche begrüßen, da es kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stützt. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass solche Abwertungsstrategien nicht von Erfolg gekrönt sind. Vielmehr haben sie zu Wohlfahrtsverlusten geführt. Die Schweiz ist das Paradebeispiel für den umgekehrten Weg. Die strukturelle Aufwertung wirkt hier als Produktivitätspeitsche für die Wirtschaft und führt auf Dauer zu Wohlstandsgewinnen.
Eine strukturelle Euro-Schwäche würde überdies die Finanzmärkte der Währungsunion dauerhaft belasten. Weder für Inländer noch Ausländer ist es attraktiv, Geld in einer Region anzulegen, deren Währung permanent unter Druck steht.
Daniel Hartmann, Chefvolkswirt bei BANTLEON Bank AG