Die wichtigsten Ergebnisse der heutigen Sitzung:
- Anhebung der Leitzinssätze um 50 Bp
- Keine Aussagen zu etwaigen weiteren Zinsanhebungen
- Inflationsprojektionen werden nach unten korrigiert
Unsere Einschätzung:
Wie von EZB-Präsidentin Christine Lagarde bereits nach der Sitzung Anfang Februar angedeutet, hat der EZB-Rat die Leitzinsen heute erneut um 50 Bp angehoben. Die Währungshüter liessen sich damit zumindest bei der heutigen Zinsentscheidung nicht von den jüngsten Finanzmarktturbulenzen beeinflussen. Dass diese nicht völlig ohne Wirkung auf den EZB-Rat geblieben sind, lässt sich aber der Pressemitteilung entnehmen. Die enthält nun keinen Hinweise mehr darauf, dass die Leitzinsen in den kommenden Monaten weiter nach oben geführt werden sollen. Das kann als Kompromiss zwischen Falken und Tauben im Rat gesehen werden. Daneben wird versichert, die aktuellen Marktspannungen genau zu beobachten und im Fall der Fälle bereitzustehen, um das Finanzsystem mit Liquiditätshilfen zu unterstützen.
Künftige Zinsentscheidungen sollen ausschliesslich in Abhängigkeit der jeweils vorliegenden Daten getroffen werden. Dabei stehen vor allem folgende Parameter im Vordergrund: der Inflationsausblick, die Konjunkturindikatoren und die Inflationsdynamik. Darüber hinaus spielt die Stärke des geldpolitischen Transmissionsmechanismus eine Rolle. Damit dürften die Finanzierungskonditionen gemeint sein. Sollte das aktuelle Basisszenario der EZB eintreten, werden die Leitzinsen Lagarde zufolge in den kommenden Monaten weitersteigen. Zugleich betonte die EZB-Präsidentin jedoch die Abwärtsrisiken für den Konjunkturausblick, die sich aus den jüngsten Finanzmarktverwerfungen ergeben.
Mit der heutigen Anhebung wurden die Leitzinsen innerhalb von nur acht Monaten um 350 Bp nach oben geführt. Innerhalb so kurzer Zeit ist das der stärkste Zinsanstieg seit 1999 bzw. unter Einbeziehung der Bundesbank sogar der vergangenen 40 Jahre. Eine derartige Verschärfung der Finanzierungskonditionen kann nicht ohne Auswirkungen auf die Konjunktur bleiben. Neben der Bauwirtschaft kommt jetzt auch der Bankensektor in Bedrängnis. Insbesondere die inverse Zinskurve belastet die Ertragsaussichten der Finanzinstitute. Dabei haben die bisher erfolgten Zinserhöhungen ihre volle Wirkung noch gar nicht zur Gänze entfaltet. Das geschieht erst in den kommenden Quartalen.
Die ungünstigen Konjunkturperspektiven in Kombination mit den Finanzmarktturbulenzen der vergangenen Tage sprechen dafür, in Sachen geldpolitische Straffung den Fuss vom Gas zu nehmen. Zumal das Ziel der EZB, die Nachfrage zu dämpfen, bereits erreicht ist. Die realen privaten Konsumausgaben sind im Schlussquartal 2022 vor dem Hintergrund eines stark rückläufigen realen verfügbaren Einkommens um 0,9% gegenüber dem Vorquartal geschrumpft – und damit stärker als je zuvor seit Datenverfügbarkeit im Jahr 1995, lässt man den temporären coronabedingten Einbruch einmal aussen vor. Darüber hinaus deutet bis dato wenig darauf hin, dass sich die Konsumnachfrage schon bald wieder nennenswert belebt.
Davon abgesehen wird die Inflation in den kommenden Monaten erheblich zurückgehen. Wir rechnen im 4. Quartal mit Inflationsraten zwischen 2,5% und 3,0%. 2024 sollte der Preisauftrieb weiter nachlassen. Die EZB hat ihre Projektionen für 2024 und 2025 von 3,4% auf 2,9% bzw. von 2,3% auf 2,1% gesenkt (vgl. Tabelle unten). Das Inflationsziel dürfte im Jahresverlauf 2025 mithin erreicht werden. Das nimmt den Druck, die Leitzinsen weiter erkennbar anheben zu müssen. Zumal die Prognose für den Zuwachs des BIP in den Jahren 2024 und 2025 leicht nach unten revidiert wurde (vgl. Tabelle unten). Unseres Erachtens sind die Annahmen zum Wirtschaftswachstum jedoch sowohl für das laufende Jahr als auch für das nächste Jahr noch zu optimistisch. Infolge der dämpfenden Effekte der geldpolitischen Straffung durch die EZB sowie der von uns erwarteten globalen Konjunktureintrübung sollte das BIP in den kommenden Quartalen bestenfalls stagnieren.
Fazit:
Die neuen Inflationsprojektionen der EZB decken sich im Grossen und Ganzen mit unserer Einschätzung. Die Annahmen zum Wirtschaftswachstum sind unserer Erachtens dagegen zu optimistisch. In Sachen kurzfristige Dynamik des unterliegenden Preisauftriebs ist die EZB dagegen noch zu vorsichtig. Die Kerninflationsrate dürfte sich im 1. Halbjahr 2023 ungünstiger entwickeln als in den Projektionen der Notenbank unterstellt. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der Verbesserung wichtiger Frühindikatoren seit Herbst 2022 dürfte die EZB den Leitzinssatz im Mai um weitere 25 Bp anheben. Einen Schritt um 50 Bp halten inzwischen für sehr unwahrscheinlich. Eine abschliessende Zinsanhebung im Juni sehen wir als möglich an, würden sie aber inzwischen als Risikoszenario betrachten. Das zyklische Hoch des Einlagensatzes sollte mithin bei 3,25% erreicht werden (Risikoszenario 3,50%). Beim Hauptrefinanzierungssatz bedeutet das entsprechend eine Terminalrate von 3,75% (Risikoszenario 4,00%). Spätestens im 2. Halbjahr 2023 schliesst sich das Fenster für höhere Leitzinsen. Behalten wir mit unserer Einschätzung einer merklich rückläufigen Kerninflationsrate ab Jahresmitte sowie einer deutlich ungünstigeren konjunkturellen Entwicklung recht, dürfte die EZB die Leitzinsen ab Ende 2023 sogar senken. An den Geldterminmärkten ist hingegen aktuell ab Mai ein bis zum Jahresende weitgehend unverändertes Leitzinsniveau von gut 3,25% eingepreist.
| 2023 | 2024 | 2025 |
Wachstum in %* | 1,0 (0,5) | 1,6 (1,9) | 1,6 (1,8) |
Inflation in %* | 5,3 (6,3) | 2,9 (3,4) | 2,1 (2,3) |
Kerninflation in %* | 4,6 (4,2) | 2,5 (2,8) | 2,2 (2,4) |
Quelle: EZB, * Jahresdurchschnitt, in Klammern Prognosen vom Dezember
Von Jörg Angelé, Senior Economist der BANTLEON AG