Italien: Der Wille zu einer soliden Haushaltspolitik ist nicht erkennbar

Die Risikoaufschläge italienischer Staatsanleihen sind in den vergangenen Wochen erkennbar angestiegen. Mit ausschlaggebend hierfür dürfte die Ende September vorgestellte Haushaltsplanung Roms bis zum Jahr 2026 sein. Wir halten die Ziele zum Schuldenabbau in den kommenden Jahren für wenig ambitioniert. Die Regierung verabsäumt es damit, die Staatsfinanzen auf eine solide Basis zu stellen. Das birgt für die Zukunft erhebliche Risiken, da die Tragfähigkeit der italienischen Schuldenlast früher oder später auch von den Ratingagenturen in Frage gestellt werden könnte. BANTLEON | 20.10.2023 12:10 Uhr
Jörg Angelé, Senior Economist, BANTLEON / © e-fundresearch.com / BANTLEON
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Italien scheint Fortschritte gemacht zu haben

Im vergangenen Jahr kochte angesichts steigender Zinsen die Diskussion über die Tragfähigkeit der italienischen Staatsschulden hoch. Wir hatten das Thema im Juli 2022 in unserer Analyse »Hält Italien steigende Renditen aus?« behandelt. Wir kamen damals zu dem Schluss, Italien sei auch im Fall steigender Renditen in der Lage, seine Verbindlichkeiten dauerhaft aus eigener Kraft zu bedienen und würde nicht ausweglos in einen Zahlungsausfall rutschen. Zwingende Voraussetzung seien allerdings die Umsetzung wachstumsfördernder Maßnahmen und eine solide Haushaltspolitik.

Tatsächlich scheint Italien in wirtschaftlicher Hinsicht in den vergangenen Quartalen nennenswerte Fortschritte gemacht zu haben. Nach dem coronabedingten Einbruch im Jahr 2020 hat sich die Konjunktur rasch erholt. Mitte 2023 lag die Wirtschaftsleistung 2,1% über dem Niveau des 4. Quartals 2019; in Deutschland waren es zum selben Zeitpunkt lediglich 0,2%. Positiv fällt das Urteil auch für den Arbeitsmarkt aus. Die Arbeitslosenquote lag im Land am Mittelmeer im August nur noch bei 7,3% ‒ dem niedrigsten Wert seit Januar 2009.

Vor diesem Hintergrund ist die Hoffnung nicht unberechtigt, beim leidigen Thema Schuldentragfähigkeit hätte sich die Lage entspannt. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung an den Kapitalmärkten wider. Der Risikoaufschlag italienischer Staatsanleihen mit 10-jähriger Restlaufzeit gegenüber entsprechenden Bundesanleihen hat sich seit Herbst letzten Jahres von 250 Bp auf zwischenzeitlich 160 Bp reduziert. Erst in jüngster Zeit kam es wieder zu einer Ausweitung auf 200 Bp (vgl. Abbildung 1).

Doch der Schein trügt

Ein Blick unter die Oberfläche macht allerdings schnell deutlich, dass der Schein trügt. Das italienische Wirtschaftswunder ist nicht Folge struktureller Verbesserungen oder das Ergebnis der Umsetzung überfälliger Reformen, sondern im Wesentlichen das Resultat einer massiven Ausweitung der staatlichen Ausgaben.

Exemplarisch herfür steht der sogenannte Superbonus. Er wurde im Jahr 2020 eingeführt und sollte die von der Pandemie geplagte Konjunktur ankurbeln. Es handelt sich dabei um eine Steuergutschrift in Höhe von ursprünglich 110% (!), die private Immobilieneigentümer für die energetische Sanierung ihres Hauses oder ihrer Wohnung in Anspruch nehmen konnten. Inzwischen wurde die Förderung für Neuanträge auf 90% abgesenkt. Wenig überraschend war der Superbonus ein voller Erfolg. Bis zum Frühjahr 2023 belief sich das Volumen der staatlichen Förderzusagen auf etwa 110 Mrd. Euro. Der durch den Superbonus ausgelöste massive Anstieg der Bauinvestitionen trug maßgeblich zur raschen Erholung der Konjunktur nach der Pandemie bei (vgl. Abbildung 2). Als Folge des Baubooms wurden überdies schätzungsweise 150.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.

Daneben zahlte der Staat in den vergangenen Quartalen mehrfach hohe Energiekostenzuschüsse an private Haushalte, um diese vor den zwischenzeitlich massiv gestiegenen Gas- und Strompreisen abzuschirmen. Die Zuwendungen der öffentlichen Hand waren wesentlich dafür verantwortlich, dass der private Konsum nicht abstürzte, obwohl die Reallöhne zwischen Ende 2019 und August 2023 um fast 10,0% gesunken sind (vgl. Abbildung 3).

Die Staastfinanzen liegen im Argen

Erkauft wurde die konjunkturelle Erholung um den Preis eines enormen Haushaltsdefizits, das sich seit dem coronabedingten starken Anstieg im Jahr 2020 kaum zurückgebildet hat. Während Deutschland, Frankreich und Spanien ihr Budgetdefizit zwischen 2020 und 2022 merklich verringert haben, klaffte in der italienischen Staatskasse im vergangenen Jahr immer noch ein Loch in Höhe von 8,0% des BIP, nach 8,8% im Jahr 2021 und 9,7% im Jahr 2020 (vgl. Abbildung 4).

Dass die Staatsschuldenquote trotz dieser gewaltigen Haushaltsdefizite nicht durch die Decke gegangen ist, sondern von 154,9% im Jahr 2020 voraussichtlich auf rund 140,0% in diesem Jahr zurückgehen wird, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens ist das nominale BIP infolge des pandemie- und kriegsbedingten Inflationsschubs zwischen Ende 2020 und dem 2. Quartal 2023 um 16,3% gestiegen, was die Schuldenquote drückte.

Zweitens hat die europäische Statistikbehörde Eurostat entschieden, die im Rahmen des Superbonus gewährten Steuernachlässe seien zwar unverzüglich im Haushalt zu verbuchen, d.h. sie erhöhen das Defizit unmittelbar. Ihre Wirkung auf den Schuldenstand entfalten sie jedoch erst in den Folgejahren in Form geringerer Steuereinnahmen. Die Schuldenquote bleibt vom Superbonus daher vorerst unberührt. Dazu muss man wissen, dass die Steuergutschriften auf einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren ausgelegt sind. Die zu erwartenden Mindereinnahmen dürften sich auf bis zu 15 Mrd. Euro pro Jahr summieren, das entspricht immerhin rund 2,5% des Steueraufkommens des Jahres 2022.

Meloni hat keine große Eile mit der Haushaltskonsolidierung

Angesichts der programmierten Steuerausfälle wäre es mithin umso dringlicher, die Staatsfinanzen auf ein solides Fundament zu stellen. Allerdings zeichnet sich bisher nicht ab, dass die italienische Regierung einen solchen Pfad der Tugend einschlagen möchte. Stattdessen wurde erst Ende September das Ziel, das Defizit in diesem Jahr auf 4,5% zu drücken, verworfen. Nun wird ein Fehlbetrag von 5,3% angestrebt. 2024 soll die Neuverschuldung bei 4,3% des BIP liegen – obwohl nach Regierungsangaben auch 3,6% möglich wären. Hierzu müsste Ministerpräsidentin Giorgia Meloni allerdings auf die von ihr im Wahlkampf versprochene steuerliche Entlastung von Unternehmen und Familien verzichten, wozu sie aber offenkundig nicht bereit ist.

Die Haushaltsplanung basiert auf zu optimistischen Annahmen

Tatsächlich dürften sich die Staatsfinanzen in den kommenden Jahren ungünstiger entwickeln als es die aktuelle Planung der Regierung vorsieht. Denn infolge des Auslaufens des Superbonus und der Einstellung der staatlichen Zahlungen zur Abfederung der gestiegenen Energiepreise wird sich der fiskalische Rückenwind in einen beachtlichen konjunkturellen Gegenwind verwandeln. Das wird den privaten Konsum, noch stärker aber die Bauinvestitionen treffen. Letztere werden unserer Einschätzung nach in den kommenden Quartalen regelrecht einbrechen. Erste Anzeichen hierfür gab es bereits im 2. Quartal, als die Bauinvestitionen gegenüber dem Vorquartal um 3,6% nachgaben (vgl. Abbildung 2). Ein großer Teil der entstandenen Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft wird somit aller Voraussicht nach wieder verlorengehen.

Aus diesem Grund halten wir die von der Regierung getroffene Annahme eines realen BIP-Wachstums in Höhe von 1,0% bis 1,4% in den Jahren 2024 bis 2026 für zu optimistisch. Das gilt auch für den erwarteten Rückgang der Arbeitslosenquote auf 7,1%. Daher dürften nicht nur die Steuereinnahmen hinter den Erwartungen zurückbleiben, sondern auch die staatlichen Ausgaben stärker steigen als unterstellt.

Statt eine solide Haushaltspolitik umzusetzen, soll Tafelsilber verkauft werden

Die bisherigen Bemühungen der Regierung, an anderer Stelle zusätzliche Einnahmen zu generieren bzw. Ausgaben zu streichen, sind eher kosmetischer Natur. Weder die bereits vorgenommenen Modifikationen beim Superbonus, noch die geplanten Kürzungen beim Bürgergeld und die mit heißer Nadel gestrickte Bankensondersteuer, die einmalig bis zu 3 Mrd. Euro einbringen soll, werden das Blatt wenden.

Um die Löcher zu stopfen, spielt man in Rom nun mit dem Gedanken, Tafelsilber zu verkaufen. Unter anderem wird geprüft, mit dem Verkauf von Teilen der staatlichen Eisenbahngesellschaft (FS) und der staatlichen Autobahnbetreibergesellschaft (ASPI) einen niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag zu erlösen. Der geplante Teilverkauf der Bank Monte dei Paschi wird dagegen nur einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag in die Staatskassen spülen. Durch solche Veräußerungen gewinnt die Regierung jedoch bestenfalls etwas Zeit. Basis einer soliden Haushaltsplanung können sie nicht sein.

Unserer Einschätzung nach ist der Plan der Regierung, das diesjährige Primärdefizit – um Zinszahlungen bereinigter Haushaltssaldo – in Höhe von 1,5% des BIP bis zum Jahr 2026 in einen Primärüberschuss in Höhe von 1,6% zu verwandeln, daher auf Sand gebaut. Dabei wären Primärüberschüsse von dauerhaft 1,5% bis 2,0% nötig, um die in den kommenden Jahren spürbar steigende Zinsbelastung aufzufangen (vgl. Abbildung 5).

Der Druck auf Rom durch die EU-Kommission dürfte sich in Grenzen halten

Die wenig ambitionierten Konsolidierungsbemühungen Roms stehen im Widerspruch zu den bisherigen Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) der EU. Die sehen ein Haushaltsdefizit von maximal 3,0% sowie den Abbau des Teils der Schuldenquote, der über 60% hinausgeht, um ein Zwanzigstel pro Jahr vor. Im Fall Italiens wären das bei einer aktuellen Schuldenquote von ca. 140% rund 4,0%-Punkte jährlich. Gemäß Haushaltsplanung von Ende September sieht die Regierung Meloni bis 2026 jedoch lediglich einen Rückgang der Schuldenquote um in Summe 0,6%-Punkte vor – erforderlich wäre gemäß SWP aber eine Reduzierung um 12%-Punkte (vgl. Abbildung 6).

Vor einem harten Durchgreifen oder gar der Einleitung eines Defizitverfahrens durch die EU-Kommission muss man sich in Rom jedoch nicht fürchten. Zwar sollen die Haushaltsregeln ab kommendem Jahr wieder verbindlich gelten, nachdem sie zwischen 2020 und 2023 ausgesetzt waren. Da neben Italien jedoch auch andere Euroländer, allen voran Frankreich auf Jahre hinaus nicht vorhaben, sich erneut dem Diktat des SWP zu unterwerfen, dürfte das Regelwerk unter der derzeitigen spanischen EU-Ratspräsidentschaft stark aufgeweicht werden.

Frankreich beispielsweise hat lange Zeit dafür lobbyiert, staatliche Investitionen bei der Berechnung der Defizit- und Schuldenkennziffern außen vor zu lassen. Nun kann sich Paris aber offenbar mit einem Vorschlag der EU-Kommission arrangieren, der die deutliche Streckung der zeitlichen Vorgabe zum Schuldenabbau vorsieht. Die italienische Regierung hält dagegen an ihrer Forderung fest, »befristete Abweichungen« bei den Schuldenzielen zuzulassen. Bestenfalls sollen auch gleich die Aufwendungen für den Superbonus unter eine solche Ausnahme fallen.

Ob sich Deutschland mit seiner Forderung durchsetzen kann, im Falle einer übermäßig hohen Verschuldung zumindest eine Reduktion der Schuldenquote um 1,0%-Punkte pro Jahr vorzuschreiben, darf bezweifelt werden. Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung ist stark angeschlagen, nachdem man große Teile der hiesigen Neuverschuldung in Schattenhaushalte (»Sondervermögen«) auslagert. Die so erreichte »Einhaltung« der Defizitkriterien dürfte die übrigen EU-Länder wenig beeindrucken.

Fazit: Das »Italien-Problem« kehrt zurück

In unserer letztjährigen Szenarioanalyse hatten wir aufgezeigt, dass steigende Renditen im Zuge einer restriktiveren Geldpolitik der EZB nicht automatisch der Sargnagel für den italienischen Staatshaushalt sind. Das Land wäre bei einer soliden Haushaltsplanung durchaus in der Lage, seine Verbindlichkeiten weiterhin aus eigener Kraft zu bedienen. An dieser Einschätzung halten wir zwar fest, das Verhalten der aktuellen Regierung sorgt jedoch für eine gewisse Ernüchterung. Rom lässt bisher keinen Willen erkennen, die Staatsfinanzen auf eine nachhaltig solide Grundlage zu stellen.

Insbesondere die Absicht, den Schuldenstand gemessen am BIP bis 2026 quasi nicht zu reduzieren, ist bedenklich. Abgesehen davon, dass sich selbst der geplante Mini-Schuldenabbau wegen der unserer Ansicht nach zu optimistischen Konjunkturannahmen nicht realisieren dürfte, ist eine dauerhafte Schuldenquote von 140% eine tickende Zeitbombe. Wie zuvor die Finanzkrise, die Euro-Schuldenkrise und die Corona-Pandemie wird auch der nächste globale Schock zu in die Höhe schnellenden Staatsausgaben und wegbrechenden Einnahmen führen. Ein Anstieg des Schuldenstands auf 150% bis 160% kann in der Folge nicht ausgeschlossen werden – spätestens dann wird sich die Frage nach der Tragfähigkeit der italienischen Staatsschulden erneut stellen. Verschärfend käme hinzu, dass in einer solchen Situation die Ratingagenturen ihren Daumen über Italien senken und das Land erneut in den Non-Investment-Grade-Bereich herabstufen könnten.

Die sich abzeichnende Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist ebenfalls mit Sorge zu betrachten. Je mehr Ausnahmetatbestände geschaffen werden und je einfacher es den Mitgliedsländern gemacht wird, die Konsolidierungsvorgaben durch Tricksereien »einzuhalten«, desto schwieriger wird es, den tatsächlichen Zustand der Staatsfinanzen zu beurteilen.

Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, dass sich der Risikoaufschlag italienischer Staatsanleihen in den kommenden Quartalen und Jahren tendenziell ausweitet. Einen erneuten massiven Spreadanstieg wie während der Euro-Schuldenkrise erwarten wir jedoch nicht. Dem würde sich letztendlich die EZB entgegenstellen. Hierzu kann sie auf ihr Transmission Protection Instrument (TPI) genanntes Programm zurückgreifen und in großem Stil italienische Staatsanleihen kaufen. Bis dieses zum Einsatz käme, können die Spreads bei 10-jährigen BTPs aber durchaus in Richtung 300 Bp klettern.

Von Jörg Angelé, Senior Economist, BANTLEON

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