Kumulation exogener Schocks führte zu Preisexplosion bei Nahrungsmitteln
In Sachen Kaufkraftentzug wurde den Konsumenten in der Eurozone in den vergangenen Jahren einiges abverlangt. Die Verbraucherpreise sind gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von Ende 2020 bis Oktober 2023 um 18,4% in die Höhe geschnellt. Besonders brutal fiel der Anstieg bei den Preisen für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aus. Hier beträgt das Plus im genannten Zeitraum 26,8%. Die Vorjahresrate erreichte mit 17,5% im März dieses Jahres den höchsten Wert seit 70 Jahren (vgl. Abbildung 1).
Ausschlaggebend für die Preisexplosion bei Nahrungsmitteln waren im Wesentlichen drei Faktoren. An erster Stelle sind die infolge von Pandemie, Ukraine-Krieg und Wetterereignissen aufgetretenen Lieferengpässe zu nennen, welche die Preise in die Höhe trieben. Zweitens sahen sich viele Produzenten in den vergangenen Quartalen mit massiv gestiegenen Rohstoff-, Energie- und Transportkosten konfrontiert. Diese wurden zu einem großen Teil über höhere Preise an die Konsumenten weitergegeben. Wenn dies nicht möglich war, wurde oftmals die Produktion gedrosselt oder sogar gestoppt. Die dadurch ausgelöste Angebotsverknappung führte ebenfalls zu steigenden Preisen. Drittens schließlich nutzten zahlreiche Hersteller und Händler das Hochinflationsumfeld, um ihre Margen kräftig auszuweiten. Das belegen Untersuchungen unter anderem von der Europäischen Zentralbank (EZB), dem ifo-Institut und dem WSI.
Preisschub läuft aus
Seit Frühjahr dieses Jahres hat sich die Situation jedoch deutlich entspannt. Zwischen März und Oktober sind die Nahrungsmittelpreise nur noch um 1,0% gestiegen. Die Vorjahresrate ist dementsprechend von 17,5% auf 7,5% zurückgegangen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass der Preisauftrieb weiter nachlassen wird. Bei einigen Produkten dürfte es sogar zu Preisrückgängen kommen.
Bei Butter ist das bereits der Fall. Im vergangenen Monat mussten Konsumenten in der Eurozone 10,3% weniger für den Brotaufstrich bezahlen als vor einem Jahr. In Deutschland betrug das Minus sogar 27,5%. Der Hauptgrund dafür sind die stark gesunkenen Preise für Milch auf Erzeugerebene: Deutsche Milchbauern erhielten im Oktober 32,4% weniger Geld für ihre Ware als vor einem Jahr. In den kommenden Monaten dürfte sich dies bei weiteren Milchprodukten in rückläufigen Preisen in den Supermarktregalen niederschlagen (vgl. Abbildung 2).
Die Preise für Fleisch sollten Mitte 2024 im Vorjahresvergleich ebenfalls sinken. Darauf deutet unser Modell auf Basis der Entwicklung von Großhandelspreisen sowie saisonaler Effekte hin (vgl. Abbildung 3).
Hoffnung auf sinkende Preise dürfen sich Konsumenten darüber hinaus bei Brot, Pasta und Pizza sowie bei Pflanzenölen – außer bei Olivenöl – machen. Hintergrund sind stark rückläufige Erzeugerpreise für Weizen sowie Sonnenblumen- und Rapsöl. Deren Preise hatten sich im Zuge von Pandemie und Ukraine-Krieg teils verdreifacht. Seit dem Frühjahr 2022 sind sie jedoch wieder um bis zu 60% gesunken (vgl. Abbildung 4).
Olivenöl wird infolge der diesjährigen Olivenmissernte dagegen noch längere Zeit erheblich teurer bleiben als in den vergangenen Jahren.
Bei Gemüse und Obst zeichnet sich ebenfalls ein spürbar nachlassender Preisauftrieb ab. Eine Reihe ungünstiger Wetterereignisse hatte hier zu einem ungewöhnlich starken Anstieg der Preise im laufenden Jahr geführt: Zunächst ein Kälteeinbruch in Nordafrika und auf der iberischen Halbinsel im 1. Quartal, dann Unwetter und Überschwemmungen im Frühjahr 2023 in Italien.
Die breitangelegte Entspannung bei den Nahrungsmittelpreisen spiegelt sich auch in den deutschen Erzeugerpreisen für Agrargüter wider. Die entsprechende Vorjahresrate lag im September bei -11,5% (vgl. Abbildung 5). Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass die Nahrungsmittelpreisinflation in Deutschland zu Beginn des kommenden Jahres sogar negativ wird.
Unternehmen verlieren Preissetzungsmacht
Abgesehen vom auf breiter Front nachlassenden Preisdruck bei Agrargütern spricht ein weiterer Faktor für rückläufige Nahrungsmittelpreise: Die Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie scheinen zunehmend weniger Spielraum für höhere Preise zu sehen. Das geht aus der monatlichen Umfrage der EU-Kommission zum Industrievertrauen hervor. Demnach ging im Oktober nur noch ein Bruchteil der Hersteller davon aus, die Verkaufspreise in den kommenden Monaten anheben zu können. In der Vergangenheit waren die Absatzpreiserwartungen ein sehr zuverlässiger Indikator für die Preisentwicklung verarbeiteter Nahrungsmittel auf Konsumentenebene (vgl. Abbildung 6).
Fazit: Konsumenten können in Sachen Nahrungsmittelpreisinflation aufatmen
Alles in allem gibt es in der Eurozone zahlreiche Anzeichen für eine Fortsetzung des Disinflationstrends bei den Verbraucherpreisen für Nahrungsmittel. Wir prognostizieren einen Rückgang der entsprechenden Inflationsrate auf 1,0% bis Mitte nächsten Jahres. Im Durchschnitt dürften die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 2024 um 1,5% zulegen, nach 11,8% in diesem Jahr und 10,5% im Jahr 2022. Der Wachstumsbeitrag zur Gesamtinflationsrate wird sich damit von 1,9%-Punkten auf rund 0,2%-Punkte verringern.
Die von uns erwartete markante Abschwächung des Preisauftriebs bei Nahrungsmitteln ist ein Pfeiler unserer Prognose eines Rückgangs der Teuerungsrate in der Eurozone von 5,5% in diesem Jahr auf rund 2,0% im kommenden Jahr. Die EZB erwartet laut ihrer im September vorgestellten Projektionen dagegen eine Inflationsrate von 3,2%. Sie geht allerdings auch davon aus, dass die Nahrungsmittelpreise inklusive Alkohol und Tabak im kommenden Jahr um 3,1% ansteigen. Wir rechnen in dieser Abgrenzung dagegen nur mit einem Plus von 2,0% (vgl. Abbildung 7).
Unter anderem deshalb sind wir davon überzeugt, dass die Währungshüter ihre Inflationsprognose für das nächste Jahr in den kommenden Monaten spürbar nach unten anpassen werden.
Während sich 2024 also eine Verschnaufpause bei den Nahrungsmittelpreisen abzeichnet, dürften sich mittelfristig gerade in diesem Bereich strukturell preistreibende Faktoren bemerkbar machen. Allen voran der Klimawandel, die Deglobalisierung und der demografische Wandel.
Von Jörg Angelé, Senior Economist der BANTLEON AG