Paul Wilde erwartet, dass die europäischen Zinssätze viel niedriger bleiben werden als die in den USA oder im Vereinigten Königreich. Er geht von einer Gesamtinflation und einer Kerninflation im Jahr 2023 aus, die deutlich über dem EZB-Zielwert von 2 Prozent liegen werden. Da sich die EZB ausschließlich auf die Inflation konzentriert, hält er es für unwahrscheinlich, dass sie zu früh umschwenkt oder die Zinsen senkt. “Zwar werden die Zinssätze wahrscheinlich nicht vor 2024 sinken, doch die Märkte stehen dann auf einer solideren Grundlage. Das fördert die Vorstellung, dass die Talsohle hinter uns liegt“, erläutert Wild.
Aus Wilds Sicht erfordern höhere Zinsen eine höhere Bewertungsempfindlichkeit. Daher könnten die hoch bewerteten Wachstumswerte für einige Zeit aus der Mode kommen. Dies würde sowohl der relativen Performance Europas gegenüber den USA als auch denjenigen Bereichen des europäischen Marktes zugutekommen, die von höheren Zinsen profitieren. „Tatsächlich ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis-Gefälle zwischen Europa und den USA in den letzten zehn Jahren so groß wie nie zuvor. Hier gibt es reichlich Spielraum, die Lücke zu schließen.“
Steigende Zinsmargen sprechen für Banken
Die makroökonomischen Prognosen für 2023 sagen ein schwaches globales Wachstum und ein europäisches Wachstum nahe der Nulllinie voraus. Aus diesem Grund hält es der Portfoliomanager für zu früh, um zyklische Nicht-Finanzwerte zu kaufen. Ebenso sollten Konsumtitel für einige Zeit weitgehend gemieden werden, bis die negative Reallohnlücke zu schrumpfen beginnt und die Krise der Lebenshaltungskosten nachlässt. „Daher suchen wir überraschende und widerstandsfähige Erträge, wobei viele Wege zum Bankensektor führen“, kommentiert Wild. Hier könnten die Einlagenspannen endlich profitabel werden und die Zinsmargen steigen. „Die Kombination aus extremer Zinssensitivität, überraschend bescheidenen Gewinnerwartungen und Überkapitalisierung des Sektors macht ihn zu einer soliden Wette für 2023“, sagt Wild.
Langfristig haben thematische Aktien Potenzial
Grundlage sind für ihn langfristig Aktien mit einer strukturellen Nachfrage, die von positiven thematischen Trends angetrieben werden. Für Europa seien der "Green Deal" oder Netto-Null-Nutznießer perfekte Ausgangspunkte. Ob Schneider bei der Energieeffizienz von Gebäuden oder RWE bei Offshore-Windkraftanlagen - diese Aktien haben aus Sicht des Experten Potenzial. Auch wenn der Krieg in der Ukraine Europa gezwungen habe, an der Energiefront pragmatisch zu sein, war die langfristige Umweltrichtung noch nie so entschlossen wie heute. Die meisten Experten gingen davon aus, dass die Energiepreise nach dem Ende der russischen Invasion in der Ukraine stark sinken werden. Wie stark hänge von den Unwägbarkeiten der russischen Führungsstruktur nach dem Konflikt ab. „Bis dahin ist die Energie ein Wettbewerbsnachteil für Europa, auch wenn die Großhandelspreise für Gas seit dem Höchststand im August um fast sechzig Prozent gefallen sind.“ Dann gibt es noch Bereiche des Aktienmarkts, die von der Digitalisierung strukturell vorangetrieben werden. Dazu gehören zum Beispiel Halbleiter, Musik, Spiele oder denjenigen, die die Digitalisierung umsetzen, wie Cap Gemini.
Wild rechnet mit einem weiterhin turbulenten Aktienmarkt: „Der Schmelztiegel aus Krieg, Zinsen, Inflation und Beinahe-Rezession wird zweifellos die Volatilität der Märkte vorantreiben. Sie können innerhalb kurzer Zeit zwischen Aufschwung und Verzweiflung schwanken, während die Positionierung von schnellem Geld dramatische Auswirkungen haben kann“, sagt Wild. Die einzige Konstante sei, dass Europa bei den internationalen Anlegern nach wie vor unbeliebt ist und die Abflüsse weiter anhalten. Trotzdem sei das Umfeld günstig für Stockpicker, die die Value-Nutznießer der aktuellen Zeit kaufen und einige der eher GARP-ähnlichen Namen nach unten durchstoßen.