„Wir müssen die den Bewertungen bei Investitionsentscheidungen eine viel höhere Bedeutung beimessen. Nachsicht ist nicht mehr möglich, insbesondere bei Wachstumsunternehmen. Wenn man mit risikofreien Zinssätzen von fast 5 Prozent pro Jahr konkurriert, muss die Hürde höher sein. In den Berichten der Unternehmen sind die Auswirkungen der höheren Zinsen bereits zu erkennen.
Bedenkliche Meldungen von Unternehmen
Zum Beispiel teilte der Batteriehersteller LG Energy Solutions seinen Aktionären kürzlich mit, dass sich der Absatz von Elektrofahrzeugen im nächsten Jahr aufgrund der höheren Zinsen verlangsamen wird. Ein luxuriöses Wohnbauprojekt in Seoul hat Schwierigkeiten, nachdem es nicht gelungen ist, eine Verlängerung für Überbrückungskredite in Höhe von 344 Millionen US-Dollar zu erhalten. Altice, der Telekommunikationsriese des französisch-israelischen Milliardärs Patrick Drahi, hat alles verkauft, was ihm gehört, da er mit der Bedienung von Schulden in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar kämpft. Die indische Outsourcing-Branche, ein Indikator für die Gesundheit globaler Unternehmen, hat im letzten Quartal mehr Arbeitnehmer entlassen als in jedem vergleichbaren Zeitraum der letzten fünf Jahre. Der IWF stellt fest, dass die Verschuldung von Regierungen, Unternehmen, Verbrauchern und Finanzunternehmen in ganz Asien weit über dem Niveau vor der globalen Finanzkrise liegt, was das Risiko eines Zahlungsausfalls erhöht.
Greifbare Gewinne sind wichtig
In Zeiten niedriger Zinssätze waren die Kapitalkosten für Unternehmen gering. Vermögenswerte mit langfristigen Cashflows bis weit in die Zukunft hinein waren eine vernünftige Anlage. Die Vorstellungen über das künftige Wachstum lassen sich nicht so leicht überprüfen – diese Annahmen beruhen lediglich auf der Vorstellungskraft der Menschen. Mit einem niedrigen Diskontierungssatz wird der Gegenwartswert dieser künftigen Cashflows verstärkt. In der heutigen Welt müssen wir jedoch nach Cashflows Ausschau halten, die in naher Zukunft generiert werden können, und das hoffentlich mit einem höheren Grad an Gewissheit.
Folglich muss sich das Portfolio auf Unternehmen konzentrieren, die Kosteneinsparungen erzielen, das Betriebskapital reduzieren oder die Investitionsausgaben senken können, wobei diese Cashflows vorzugsweise für den Rückkauf von Aktien und den Schuldenabbau verwendet werden sollten.
Auswirkungen höherer Zinskosten
Man denke nur an die diesjährige Begeisterung für KI-Aktien und Hersteller von Medikamenten zur Gewichtsreduktion. In gewisser Weise sind dies Echos der Niedrigzinsphase. Jeder geht von den Auswirkungen aus, die in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren eintreten könnten. In den letzten Jahren gab es eine ähnliche Entwicklung bei Unternehmen, die die Branche der erneuerbaren Energien beliefern. Da jedoch die Zinskosten gestiegen sind, könnte es für diese Branche schwieriger werden, das Kapital aufzubringen, um weiterhin in oft unrentable Projekte zu investieren.
Die Auswirkungen höherer Zinssätze auf die Unternehmen werden beträchtlich sein, denn sie stellen die Durchführbarkeit vieler Projekte in Frage. Das löst eine Kettenreaktion aus. Bei Solar- und Windkraftprojekten bekommen nun auch ihre Ausrüster den Druck zu spüren. Bei den Halbleitern sind nicht nur die Chiphersteller unter Druck, sondern auch ihre Zulieferer. In China wirkt sich das Platzen der Immobilienblase nicht nur auf die Lieferanten von Stahl und Zement aus. Sie trifft auch die Immobilienmakler, die feststellen müssen, dass sie noch Provisionen zu zahlen haben.
Was machen die Zentralbanken?
Man muss also einen Schritt zurücktreten und die Blende des Objektivs verändern. Denn das sind die Konsequenzen der steigenden Geldkosten, wobei uns das volle Ausmaß noch gar nicht erreicht hat. Daher ist vor allem Vorsicht angesagt. Da sich die Kreditvergabe verknappt, sich das Wachstum verlangsamt, Unternehmen scheitern und die Arbeitslosigkeit steigt, erwarten viele Analysten, dass die Zentralbanken und Regierungen zu ihren alten Methoden zurückkehren: die Zinssätze senken und die Liquidität erhöhen. Manch ein Anleihen-Bulle vertritt die Meinung, dass eine Konjunkturabschwächung oder eine Rezession die Zentralbanken zu einer Haltungsänderung und Mäßigung zwingen würde, und dass wir uns daher kurz vor dem Höhepunkt des Zinszyklus befänden.
Doch wenn sich die Spielregeln geändert haben, müssen wir diese Annahme der Liquiditätszufuhr durch die Zentralbanken in Frage stellen. Meiner Meinung nach haben die Federal Reserve und andere Zentralbanken mit ihrer ultralockeren Geldpolitik unsere Inflationsprobleme verschärft. Werden sie angesichts eines wirtschaftlichen Abschwungs und eines anhaltenden Inflationsdrucks denselben Weg einschlagen wie während der COVID-Phase? Oder gehen sie neue Wege? Die Antwort entscheidet über die Portfolioausrichtung.“
Von Samir Mehta, Senior Fund Manager bei J O Hambro Capital Management