„Obwohl die EZB vor kurzem das Tempo ihrer pandemiebedingten Ankäufe von Vermögenswerten gedrosselt hat, tritt sie nun in eine kritische Phase ein, in der sie ihren Kurs für 2022 und darüber hinaus festlegt.
Eines der wichtigsten geldpolitischen Instrumente der EZB – das Pandemie-Notkaufprogramm – soll Ende März 2022 auslaufen. Die sich dadurch abzeichnende Verringerung der Käufe von rund 80 Mrd. EUR auf 20 Mrd. EUR pro Monat bedeutet für die EZB, dass sie am Scheideweg steht.
Damit besteht ein greifbares Risiko, dass der EZB-Rat zu seiner gewohnten Vorgehensweise zurückkehrt und einen politischen Kurs wählt, der zu wenig erreicht und zu spät kommt. Denn die aktuellen Maßnahmen könnten zwar ausreichen, um eine übermäßige Marktvolatilität zu vermeiden, jedoch andererseits nicht genügen, um das neue symmetrische Inflationsziel der EZB von 2 % zu erreichen. In einem solchen Fall könnte die Wirtschaft zu dem schwachen Wachstum und der unter dem Zielwert liegenden Inflation zurückkehren, die im Jahrzehnt vor der Pandemie herrschten.
Eine weitere Fehlerquelle bergen die Feinheiten der europäischen Geldpolitik und die Präzision, mit der die EZB ihre politischen Absichten vermitteln muss. So könnte ein Kommunikationsfehler zu einem europäischen „Taper Tantrum“ führen, indem fälschlicherweise eine frühere Straffung signalisiert wird. Denn die schwierigen politischen Entscheidungen in Verbindung mit dem bisherigen Mangel an Konsens im EZB-Rat veranlassen die Marktteilnehmer aktuell, auf jeden Hinweis einer unzureichenden Anpassung zu achten. Anzeichen für ein Zögern könnten dabei ironischerweise sogar ein noch stärkeres Eingreifen der EZB erfordern. Dies erinnert an die Ereignisse von Anfang März 2020, als der EZB-Rat zunächst eine relativ bescheidene Intervention in den ersten Tagen der Pandemie ankündigte, woraufhin schwere Markt-Turbulenzen und die anschließende Einführung des PEPP folgten.
Andererseits ist denkbar, dass die EZB ihre Ankäufe von Vermögenswerten ausweiten wird. Sie könnte dies tun, indem sie einen Rahmen von etwa 500-750 Mrd. € ankündigt, der in aufeinanderfolgenden Quartalen nach Bedarf aufgekauft werden soll. Damit hätte die EZB in Echtzeit einen Ermessensspielraum, um die günstigen Finanzierungsbedingungen aufrechtzuerhalten.
In einem solchen Szenario wäre mit einer weiteren Etappe der Reflationierung zu rechnen. Wenn die EZB klar ihre Bereitschaft signalisiert, an ihrer robusten Stimulierungspolitik festzuhalten und sich – mit einem nahezu einstimmigen Beschluss – dazu verpflichtet, ihr neues Inflationsziel zu erreichen, könnten die mittelfristigen Inflationserwartungen schneller als prognostiziert auf den Zielwert zurückkehren. Vielleicht schon im Jahr 2023. Ein solches Ergebnis würde einen erfolgreichen Regimewechsel unter EZB-Präsidentin Lagarde bedeuten.
Das symmetrische 2 %-Ziel deutet darauf hin, dass der EZB-Rat eine Überschreitung der Inflationsrate tolerieren – wenn nicht sogar anstreben – wird. Dies hat der Rat im Juli angedeutet, als er erklärte, dass die Inflation 2 % „deutlich vor“ dem Ende des Projektionszeitraums erreichen müsse und die Vorgaben an realisierte Fortschritte bei der zugrunde liegenden Inflation knüpfte. Da keine der beiden Bedingungen erfüllt ist, würde eine unmittelbar bevorstehende Verschärfung der finanziellen Bedingungen so kurz nach der Neufestsetzung des Handlungsrahmens ein erhebliches Risiko für die Glaubwürdigkeit der EZB darstellen. Schlimmer noch, sie könnte im Widerspruch zu den überraschend robusten Maßnahmen der EZB seit Beginn der Pandemie stehen. Tatsächlich sind die mittelfristigen Inflationserwartungen sieben Monate in Folge gestiegen – der längste Anstieg dieser Art seit weit mehr als einem Jahrzehnt – wenn auch immer noch deutlich unter dem 2 %-Ziel der EZB.
Fazit: Die EZB wird das Richtige tun
Noch im Juli 2021 deutete die Umfrage der EZB bei den Währungsanalysten darauf hin, dass keine Ausweitung der Ankäufe von Vermögenswerten über Ende März 2022 hinaus erwartet wird. Nur zwei Monate später, im September 2021, rechneten die Umfrageteilnehmer im Median mit einer Erhöhung der monatlichen Käufe um rund 12 Mrd. € bis 2022. Die sich verändernden Erwartungen erhöhen die Bedeutung der EZB-Entscheidungen vom Dezember – zusammen mit den damit einhergehenden Risiken.
Was wird passieren? Mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 % gehen wir davon aus, dass die EZB zu einer Politik des „Durchwurstelns“ zurückkehrt, die ihr Inflationsziel weiterhin verfehlt und ihre Glaubwürdigkeit bei der Umsetzung ihrer neuen Politik weiter gefährdet. Mit einer nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit von 10 % wird die EZB einen Kommunikationsfehler begehen, der möglicherweise zu einem Taper Tantrum nach europäischem Vorbild führen könnte.
Bleibt man bei den beschriebenen Annahmen, wird die EZB letztendlich mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 % das „Richtige“ tun, indem sie ihre Ankäufe von Vermögenswerten über Ende März 2022 hinaus deutlich ausweitet.“
Katharine Neiss, PhD, Europäische Chefvolkswirtin, PGIM Fixed Income