PGIM-Ökonom Gerwin Bell über China: Was kommt nach dem Stillstand?

PGIM Investments | 22.10.2022 17:28 Uhr
Von Gerwin Bell, Lead Economist for Asia bei PGIM Fixed Income / © e-fundresearch / PGIM Investments
Von Gerwin Bell, Lead Economist for Asia bei PGIM Fixed Income / © e-fundresearch / PGIM Investments
Archiv-Beitrag: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Die wirtschaftlichen Risiken in China mehren sich fast täglich. Dazu zählen Turbulenzen auf dem Immobilienmarkt bis hin zu Naturkatastrophen, so dass das chinesische Wirtschaftswachstum weit von dem für dieses Jahr gesetzten Zielwert von „rund 5,5 %“ entfernt liegen dürfte. Allerdings ist diese wirtschaftliche Abkühlung Chinas das Ergebnis zweier schwerwiegender wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen, die sowohl die kurz- als auch langfristig Planung betreffen —den Eingriff in den Immobilienmarkt letztes Jahr, sowie die größere staatliche Einflussnahme über das letzte Jahrzehnt hinweg.

In der Tat hat die kurzfristige starke Verlangsamung in China nichts mit den Schwankungen des Konjunkturzyklus zu tun, sondern vielmehr mit der Entscheidung Chinas aus dem vergangenen Jahr, den Immobilienmarkt im Einklang mit der Agenda für „gemeinsamen Wohlstand“ zu beruhigen. Auch wenn viele mit dem Finger auf die chinesische Null-Covid-Politik zeigen, hat diese keine wesentliche Rolle bei der Ursache des makroökonomischen Stillstands gespielt.

Die plötzliche und massive Einschränkung des Immobilienmarktes (die Politik der „drei roten Linien“) im vergangenen Jahr brachte erhebliche makroökonomische Konsequenzen für China mit sich. Für einen Sektor, auf den etwa ein Viertel des chinesischen BIP und 80 % des Vermögens der privaten Haushalte entfallen, waren die Risiken erheblich.

In der Tat sprechen die Anzeichen und Entwicklungen der letzten Monate dafür, dass die privaten Haushalte das Vertrauen in die Sicherheit von Immobilien als Anlagewert verloren haben; dieses Vertrauen — und die damit verbundene stetige Nachfrage nach neuen Immobilien, war aber bisher der Grundpfeiler des chinesischen Wachstumsmodells. Wir waren bereits über den anhaltenden Rückgang der Kaufbereitschaft von Immobilien zusehends beunruhigt. Unsere Erwartung, dass die Behörden das Ausmaß des wirtschaftlichen Abschwungs erkennen und rechtzeitig breit angelegte Konjunkturmaßnahmen ergreifen würden, war jedoch falsch oder zumindest verfrüht.

Erhebliche Rückgänge in Sektoren wie Einzelhandel, Industrieproduktion und Anlageinvestitionen

Die jüngsten Wirtschaftsdaten in China zeigen, dass es der Regierung noch nicht gelungen ist, den Einbruch auf dem Immobilienmarkt zu stoppen. Die konjunkturelle Abschwächung hat sich auch auf die Stimmung der Privathaushalte und Unternehmen übertragen. Dies belegen die erheblichen Rückgänge der Wirtschaftsdaten in verschiedenen Sektoren wie beim Einzelhandelsumsatz, der Industrieproduktion und beim Anlagevermögen.

Unterdessen hat sich die Kreditvergabe leicht verbessert, das Tempo ist jedoch weit davon entfernt, der Nachfrage einen nennenswerten Impuls zu verleihen.

Diese Entwicklung ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: Die Behörden wollen die erneuten Exzesse des Kreditwettlaufs wie nach der globalen Finanzkrise vermeiden, der zu Überinvestitionen und notleidenden Krediten geführt hat. Zweitens wollen sie eine geringere Kreditnachfrage im privaten Sektor, da die Attraktivität von Immobilien als sichere Anlage in Frage gestellt wurde und wird.

Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die finanzielle Lockerung durch Leitzinssenkungen, die Senkung des Mindestreservesatzes und die Abwertung des Yuan nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, um die Konjunktur wieder anzukurbeln. Was die längerfristigen Perspektiven anbelangt, so sind wir schon seit einiger Zeit hinsichtlich des Wachstumspotenzials Chinas skeptisch. Unsere Vorhersagen lagen daher bereits am unteren Ende der Konsensprognosen.

Ein verlorenes Jahrzehnt?

Über die jüngere Vergangenheit hinaus konnten wir in den letzten zehn Jahren eine staatlich gelenkte Wirtschaftsentwicklung auf Kosten der Dynamik des privaten Wirtschaftssektors beobachten. Dies hatte erhebliche volkswirtschaftliche Kosten zur Folge. Bestätigt wird dies beispielsweise durch die Zahlen des IWF: Das durchschnittliche jährliche Wachstum der totalen Faktorproduktivität vor der Pandemie betrug lediglich 0,7 % und lag damit weit unter dem Niveau, das zur Erreichung der ehrgeizigen Entwicklungsziele erforderlich gewesen wäre.

Unterm Strich ist die Bilanz all dieser Faktoren nicht gerade erfreulich. Auch wenn sich die Interpretation der BIP-Daten aufgrund der zunehmenden Unstimmigkeiten zwischen den offiziellen Quartals- und jährlichen Daten inzwischen sehr schwierig gestaltet, ist die chinesische Wirtschaft ohne Frage in der ersten Jahreshälfte 2022 zu einem Stillstand gekommen. Was die Regierung tun kann und wird, um die Krise zu mindern, ist offen.

Wachstumsprognose von 4 % muss voraussichtlich nach unten korrigiert werden

Sollte China nicht zu einer energischeren fiskalischen Lockerung übergehen – die bisher vor allem in Form von Unternehmenssteuersenkungen, Mehrwertsteuerrückerstattungen und dem Vorziehen von Anleiheemissionen und Ankurbelung der Kreditvergabe durch die politischen Banken erfolgte – müssten wir die Prognose von 4 % für das Jahr 2022 weiter nach unten korrigieren. Denn der so wichtige Investitionsschub steht noch aus.

Trotz allem gibt es nicht nur negative Entwicklungen. Die Umsetzung und Ankündigung kleinerer Konjunkturmaßnahmen an vielen Fronten wird bis zum Jahresende zu einer kumulativen Lockerung der Politik beitragen. Dies könnte ein notwendiges Gegenmittel gegen den Pessimismus der Anleger sein, sollten sich die Wachstumssorgen in den USA und der EU bestätigen. Aber selbst bei diesem kurzfristig günstigen Szenario ist die Notwendigkeit, das Produktivitätswachstum zu steigern und die Schuldenlast der Wirtschaft zu verringern, dringlicher denn je.

Von Gerwin Bell, Lead Economist for Asia bei PGIM Fixed Income

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