Europas Ambitionen, bei erneuerbaren Energien und in der Halbleiterindustrie zur Weltspitze zu gehören, haben einen entscheidenden Schwachpunkt: den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Doch statt diese Lücke zu schließen, baut Europa Hürden auf, wo Brücken nötig wären, und überlässt es anderen, im Wettbewerb um qualifizierte MigrantInnen die Nase vorn zu haben.
Die ehrgeizigen Maßnahmen zum Aufbau von Zukunftsindustrien schaffen bereits heute eine Nachfrage an Arbeitskräften in Millionenhöhe. In einigen Bereichen, wie z.B. den erneuerbaren Energien, würde die Erreichung der angekündigten europäischen Ziele in nicht einmal fünf Jahren eine Verdoppelung der heutigen Arbeitsplätze erfordern. Hinzu kommen Tausende von Arbeitsplätzen, von denen wir bereits heute wissen, dass sie nicht besetzt werden können - vom Mangel an Krankenpflegepersonal in Großbritannien bis hin zu TechnikerInnen in der wachsenden deutschen Halbleiterindustrie.
Als ob diese Defizite nicht schon beunruhigend genug wären, haben sich viele noch immer nicht mit der Realität der demografischen Klippe in Europa abgefunden. Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungen fortsetzen, wird die Erwerbsbevölkerung in der Europäischen Union bis zum Jahr 2050 um etwa 60 Millionen Menschen schrumpfen.
In den vergangenen Jahrzehnten hätte dieses Problem durch Outsourcing und die Nutzung globaler Lieferketten gelöst werden können. Die Zeiten eines weltweiten Überangebots an Arbeitskräften sind jedoch vorbei, da inzwischen auch Länder wie China mit einem Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen haben. Hinzu kommt, dass sich die europäische Nachfrage auf heimische Branchen verlagert hat, die nicht ausgelagert werden können, wie etwa die Altenpflege, oder auf strategisch wichtige Branchen, die nicht ausgelagert werden sollen, wie beispielsweise die Energie- und Chipindustrie. Dies lässt Politik und Unternehmen nur zwei Optionen: eine stärkere Ausweitung der Zuwanderung oder eine höhere Erwerbsquote.
Trotz der politischen Herausforderungen dürfte die naheliegendste Lösung sein, die Zuwanderung von Fachkräften zu fördern – und in diesem Bereich kann Europa bislang nicht mit den USA mithalten. Diese Diskrepanz wird dadurch verschärft, dass der Wettbewerb um Fachkräfte global geführt wird und jedes Land ähnliche Kompetenzen benötigt. Europa braucht Maßnahmen für gezielte Arbeitsvisa, um bestimmte Diskrepanzen auszugleichen, die von kurzfristigen, saisonalen Arbeitsgenehmigungen bis hin zu längerfristigen Visa für ArbeitnehmerInnen mit besonders gefragten Qualifikationen reichen können. Wir haben beobachtet, dass dies in einigen Teilen Europas praktiziert wird, in denen Zahl der Arbeitskräfte wahrscheinlich am schnellsten abnehmen wird. Ein Beispiel dafür ist Deutschland, das mit Brasilien eine gezielte Partnerschaft zur Anwerbung von Fachkräften wie etwa Krankenpflegepersonal aufgebaut hat. Die Lücke zwischen Arbeitskräfteangebot und -nachfrage wird sich jedoch weiter vergrößern, wenn Maßnahmen wie diese nicht weiter ausgebaut werden.
Die zweite Option ist die Erhöhung der Erwerbsquoten, insbesondere der Frauenerwerbsquote, die in Europa trotz jahrzehntelanger Fortschritte immer noch hinterherhinkt. Eine höhere Erwerbsbeteiligung ist für alle Länder wichtig, besonders aber für jene, die im globalen Wettbewerb um Talente nicht mithalten können oder wollen. Ein Beispiel dafür ist Italien: Mit einer Frauenerwerbsquote von derzeit 56 Prozent – weit unter dem EU-Durchschnitt von rund 70 Prozent – haben Maßnahmen zur Anhebung der Erwerbsquote auf den EU-Durchschnitt das Potenzial, 1,5 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen.
Die Demografie wird eine neue Ära auf den Arbeitsmärkten unausweichlich machen, aber sie ist kein unabwendbares Schicksal. Europa hat die Chance, pragmatisch zu handeln und seine Einwanderungspolitik so zu gestalten, dass der Bedarf mit dem Angebot an qualifizierten Arbeitskräften in anderen Regionen in Einklang gebracht wird. Es ist an der Zeit zu handeln, bevor sich das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt weiter verfestigt und Europa den Anschluss verliert.
Von Taimur Hyat, Chief Operating Officer bei PGIM