Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament hat sich die europäische Schubumkehr auch auf die Politik ausdehnt. Während die extreme Rechte in den Kernländern (z.B. Niederlande, Österreich, Frankreich, Deutschland) an Zustimmung gewinnt, verliert sie in den Peripherieländern (z.B. Spanien, Griechenland, Ungarn) an Zuspruch. Gleichzeitig ist die Herausforderung für die Parteien der Mitte und vielleicht auch für die EU selbst eine andere als in früheren Zeiten der Auseinandersetzungen innerhalb des politischen Blocks. In der Tat konzentriert sich die Rhetorik derzeit eher auf eine „Reform der EU von innen“ als auf einen „Austritt aus der EU“.
Die Wahlen wurden als Referendum über die nationalen Regierungen betrachtet, mit unterschiedlichen Ergebnissen und Reaktionen. So schnitten die Regierungsparteien in Griechenland, Italien und Spanien gut ab, während sie in Frankreich, Deutschland und Belgien Probleme hatten. Die politischen Reaktionen reichten von Neuwahlen in Frankreich über die Bildung einer neuen Regierung in Belgien bis hin zu einer tieferen politischen Krise in Deutschland mit der Forderung nach Neuwahlen vor dem Herbst 2025.
Die Auswirkungen auf die betroffenen Länder könnten erheblich sein. Wir glauben etwa, dass der Ausgang der nunmehr anstehenden Parlamentswahlen in Frankreich für Europa von größerer Bedeutung sein wird als die gerade abgeschlossenen Wahlen zum Europäischen Parlament. In Deutschland könnten politische Querelen die EU-weite Agenda untergraben, und ein langwieriger Prozess der Regierungsbildung in Belgien könnte die territoriale Integrität des Landes gefährden (Stichwort flämische Unabhängigkeit).
Wir haben auch einige andere Anzeichen dafür gefunden, dass sich die europäische Reaktionsfunktion nach der Abstimmung weiterentwickelt hat. Die europäischen Risikoindizes (d.h. französische Renditen, EUR/USD und Aktien der Eurozone) gaben nach dem Wahlaufruf des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach. Die Renditen von deutschen Staatsanleihen, die in der Regel in Zeiten der Risikoaversion sinken, stiegen jedoch an. Darüber hinaus haben frühere Haushaltsdefizite und politische Konflikte möglicherweise zu Forderungen nach Sparmaßnahmen geführt, die in der aktuellen Situation jedoch erstaunlicherweise ausgeblieben sind.