Nach dem dramatischen Zusammenbruch der Koalition von Bundeskanzler Scholz am Tag von Trumps Wahlsieg steht Deutschland nun vor vorgezogenen Neuwahlen. Politische Stabilität ist seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ein fester Bestandteil des politischen Systems in Deutschland. Vorgezogene Neuwahlen sind daher eher ungewöhnlich. Sie sind ein Zeichen der politischen Lähmung angesichts der wirtschaftlichen Stagnation, mit der das Land seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zu kämpfen hat. Die wirtschaftlichen Herausforderungen für Deutschland sind gravierend. Die deutsche Wirtschaft ist in den letzten zwei Jahren geschrumpft und wird 2025 voraussichtlich nur um wenige Zehntel Prozent wachsen. Die jüngste wirtschaftliche Schwäche steht in starkem Kontrast zu der durchschnittlichen jährlichen realen Wachstumsrate von 2,0% in den Jahren 2010 bis 2019. So beunruhigend dies auch sein mag, vorgezogene Wahlen bieten die Chance für einen Neuanfang. Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen das Land derzeit steht, gilt: je früher, desto besser.
Mögliche Energiesubventionen und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass ein günstiges Wahlergebnis zu mutigen Reformen oder einer fiskalischen Offensive nach amerikanischem Vorbild führen wird. Im Falle einer CDU/CSU-geführten Regierung ist bestenfalls mit geringfügigen politischen Kursänderungen zu rechnen, wobei der Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit und höheren Haushaltsausgaben liegen dürfte, insbesondere im Verteidigungsbereich. Denkbar sind Energiesubventionen und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben um rund 50 Milliarden Euro pro Jahr. Dies wäre ein Schritt in die richtige Richtung, stellt jedoch kaum einen radikalen Umbruch in der bisherigen Politik dar. Während des Energiepreisanstiegs wurden deutsche Unternehmen durch hohe Energiesubventionen unterstützt. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine stimmte Deutschland ein „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro für zusätzliche Verteidigungsausgaben zu, die über zwei Jahre verteilt werden sollten. Diese Maßnahmen verhinderten jedoch lediglich, dass die deutsche Wirtschaft weiter schrumpfte.
Umsetzung von Reformen wird noch andauern
Der voraussichtlich nächste Kanzler, Friedrich Merz, ist vielleicht reformfreudiger, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt, da er nach den aktuellen Umfragen wahrscheinlich eine Koalition mit mindestens einer anderen Partei der Mitte bilden muss (z. B. den Grünen oder, wahrscheinlicher, der SPD). Die Notwendigkeit der Koalitionsbildung deutet auch darauf hin, dass Änderungen wahrscheinlich erst nach einiger Zeit umgesetzt werden können. Es kann Monate dauern, bis die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind und ein Kanzler bestätigt ist. So dauerte es 2017 fünf Monate, bis Angela Merkel als Kanzlerin bestätigt wurde. Für eine Reform der Schuldenbremse wäre dann eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Auch dies könnte angesichts der wachsenden Unterstützung für Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums, die solche Bemühungen vereiteln könnten, einige Zeit in Anspruch nehmen. Wir halten daher die zweite Jahreshälfte 2025 für den frühestmöglichen Zeitpunkt für die Verabschiedung von Reformen oder höheren Ausgaben an, wobei 2026 realistischer ist.
Schwäche Deutschlands könnte auf EU übergreifen
Im besten Fall ist daher zu erwarten, dass die Wahlen in Deutschland zu kleineren Reformen und höheren Haushaltsausgaben führen werden, deren Verabschiedung und Umsetzung einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die vorgezogenen Neuwahlen die Situation nicht so lösen, und die politische Fragmentierung zu einer anhaltenden Lähmung führt. Angesichts der verbindlichen Haushaltszwänge ist Deutschland nicht in der Lage, den Druck auf die Sozialausgaben, die sinkende Wettbewerbsfähigkeit und die innenpolitischen Sicherheitsbedenken gleichzeitig zu bewältigen. Mit Blick auf die Größe und Vernetzung Deutschlands besteht die Gefahr, dass die Schwäche des Landes auf den Rest der EU übergreift, und dies zu einem kritischen Zeitpunkt, da die Region mit erneuten Handelsspannungen mit den USA und China konfrontiert ist.
Von Katharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed Income