Ich gehe davon aus, dass die nächste Zinssenkung der EZB um 25 Basispunkte ziemlich sicher ist. Damit läge der Leitzins innerhalb der von der EZB als neutral eingestuften Zinsbandbreite, wodurch sich der EZB-Rat leichter auf einen Konsens einigen dürfte.
Es ist durchaus möglich, dass die makroökonomische Lage zwar kurzfristige Zinssenkungen erfordert, um die Wirtschaft in dieser Phase der Unsicherheit zu stützen. Später könnten jedoch höhere Zinsen notwendig werden, wenn andere politische Instrumente wie fiskalische Maßnahmen zur Stabilisierung der Makroökonomie eingesetzt werden. Letztendlich handelt es sich um strukturelle Schocks, die sich besser mit fiskalpolitischen als mit geldpolitischen Maßnahmen bekämpfen lassen. Dennoch muss die EZB weiterhin wachsam gegenüber dem Risiko einer Rückkehr zu einer zu niedrigen Inflation bleiben, wie sie in den zehn Jahren vor 2020 zu beobachten war.
Die jüngsten Daten haben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die EZB von einer neutralen zu einer akkommodierenden Geldpolitik übergehen muss. Die vorläufigen PMIs für Mai fielen sehr schwach aus und deuten auf eine nachlassende Binnennachfrage hin. Dies steht in direktem Widerspruch zu einer wichtigen Annahme, die der Prognose der EZB zugrunde liegt. Außerdem ist der Anstieg der ausgehandelten Löhne deutlich zurückgegangen, von über 4% im vierten Quartal auf 2,4% im ersten Quartal. Dies dürfte die EZB in ihrer Zuversicht bestärken, dass die im Inland generierte Inflation tatsächlich weiter auf ein mit dem Inflationsziel von 2% vereinbares Niveau sinkt. Sollte die Kombination aus schwacher Konjunktur und rückläufiger Inflation anhalten, dürfte es für die EZB einfacher werden, über Juni hinaus weitere Zinssenkungen vorzunehmen.
Die Kombination aus beispielloser Zollunsicherheit und einem nach wie vor erheblichen, wenn auch nachlassenden Inflationsschock macht es für die EZB sehr viel schwieriger, politische Entscheidungen vorwegzunehmen. Dies deutet darauf hin, dass die Zeiten niedriger, vorhersehbarer und stabiler Leitzinsen, wie sie vor der Pandemie herrschten, in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich sind.
Von Katharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed Income