Die EZB überraschte niemanden mit ihrer heutigen Zinserhöhung um 75 Basispunkte. Diese Zinserhöhung war sogar noch deutlicher als die letzte, da verschiedene EZB-Sprecher bereits Prognosen für die Zukunft abgegeben hatten, so dass der Schritt von den Märkten nahezu perfekt eingepreist worden war.
Zuvor war die Möglichkeit einer schockartigen Anhebung der Leitzinsen um 100 Basispunkte ins Gespräch gebracht worden, doch war dies zunächst nur eine entfernte Möglichkeit. Diese war allerdings nach der Veröffentlichung der "Anti-Goldlöckchen"-Energieindikatoren für Oktober am Montag, die weitere Anzeichen für einen rezessiven Druck, aber kaum eine Abschwächung der Inflation zeigten, endgültig vom Tisch. Da sich die EZB nach wie vor mehr Sorgen um die Inflation als um das Wachstum macht, deuteten die Preisdaten nicht auf einen Kurswechsel hin und da die Wachstumsdaten eine Anhebung um 100 Basispunkte ausschlossen, blieben 75 Basispunkte die einzig sinnvolle Option.
Dieser Schritt zeigt, dass die EZB weiterhin auf die Kritik reagiert, hinter der Kurve zurückzubleiben, insbesondere in Bezug auf die Fed. Und auch auf die zunehmenden Rufe nach einer Untergrenze für den Euro, um die zusätzliche importierte Inflation (insbesondere bei den Energiepreisen), die seine Schwäche mit sich gebracht hat, einzudämmen. Mit dieser zweiten Erhöhung um 75 Basispunkte liegt der Einlagensatz in der Mitte der von EZB-Vertretern genannten Spanne von ein bis zwei Prozent für den neutralen Zinssatz, was angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit einer Rezession in der Eurozone im vierten Quartal ein natürlicher Ausgangspunkt für eine Verlangsamung der Zinserhöhung sein dürfte.
Infolgedessen erwarten wir, dass die EZB ihr Tempo bei den Zinserhöhungen verlangsamt und im Dezember "nur" weitere 50 Basispunkte anhebt, so dass der Einlagensatz zum Jahresende bei zwei Prozent liegen wird. Angesichts des Konsenses über die heutige Zinserhöhung galt das meiste Interesse der Ausstiegsstrategie der EZB: Die Quantitative Straffung wurde auf dieser Sitzung erörtert, eine Entscheidung wird jedoch nicht vor Dezember fallen. Es scheint, dass die Umsetzung aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Fragmentierung und der Marktstabilität nur langsam und erst nach Erreichen des Endpunkts der Leitzinsen erfolgen könnte. Wie die revidierten Prognosen der EZB gezeigt haben, wird 2023 ein düsteres Jahr werden, und die Zentralbank braucht so viel Flexibilität wie möglich.
Altaf Kassam, Leiter des Investment Strategy & Research EMEA bei State Street Global Advisors