Seit Beginn der Direktwahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 1979 wird dieses von einer losen zentristischen Koalition dominiert: den Mitte-Links-Sozialisten und Demokraten (S&D) und der Mitte-Rechts-Partei der Europäischen Volkspartei (EVP). In der Vergangenheit hatten die beiden Parteien zusammen 50 bis 70 Prozent der Sitze inne, doch dies hat sich in den letzten Jahren geändert, da rechtsgerichtete euroskeptische Parteien immer mehr an Einfluss gewonnen haben.
Es wird erwartet, dass sich der Rechtsruck bei den kommenden Wahlen fortsetzen wird. Umfragen gehen davon aus, dass die beiden vorherrschenden Parteien zusammen knapp über 40% der Sitze erhalten werden, ein historischer Tiefstand. Dieses Ergebnis wird dafür sorgen, dass die Stimmen der Mitte weiterhin die Debatte bestimmen, aber es wird schwieriger werden, Stimmen von rechts zu ignorieren. Die ausdrücklichen Annäherungsversuche der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, an die Rechte könnten ihre Wiederwahl gefährden, auch wenn dies immer noch das wahrscheinlichste Ergebnis ist.
Wie bereits erwähnt, sind die Wahlen selbst kein Marktereignis. Wenn sich die Wahlen zu den nationalen Parlamenten schon weit entfernt anfühlen können, ist das Europäische Parlament noch weiter entfernt. Das ist gewollt. Zum einen teilt es sich die Gesetzgebungsbefugnis mit dem Europäischen Rat. Es gibt jedoch auch andere Schwachpunkte, wie z. B. mangelnde Disziplin innerhalb der Fraktionen (d. h. der Parteien) aufgrund des breiten politischen Spektrums und der unterschiedlichen nationalen Prioritäten. Wenn die wechselnden politischen Winde die nationalen Parlamente bestimmen, kann man sagen, dass eine allmähliche Veränderung der Temperatur das Europäische Parlament bestimmt.
Investoren sollten jedoch die Ergebnisse der Wahlen nicht ignorieren. Eine größere Anzahl rechter Stimmen wird die Politik der Europäischen Union (EU) nach rechts verschieben, da die Politik in größerem Maße von Themen und nicht von Parteien bestimmt wird (wie es normalerweise in den nationalen Parlamenten der Fall ist). Diese Verschiebung ist für die Mitgliedstaaten von Bedeutung, da das EU-Recht Vorrang vor der nationalen Gesetzgebung hat. Er ist auch international von Bedeutung, da er bestimmt, wo die EU in globalen Fragen steht - von ihrer eigenen Wettbewerbsfähigkeit bis hin zu Fragen des Handels und der Sicherheit.
Der Rechtsruck hat bereits begonnen
Einige neue Themen sind klar erkennbar. Die Rechten haben einige gemeinsame politische Präferenzen, darunter: Misstrauen gegenüber der europäischen Autorität, Skepsis gegenüber globalen Fragen und höhere Ansprüche an die Sicherheit. Dementsprechend erwarten wir, dass die EU-Agenda weniger ehrgeizig in Bezug auf den grünen Übergang, soziale Gerechtigkeit und Projekte wie einen gemeinsamen Kapitalmarkt sein wird. Sie wird wahrscheinlich in den Bereichen Migration und Handel protektionistischer und in der Verteidigung ehrgeiziger sein. In der Tat hat der Wandel bereits begonnen: Die EU hat ihre Klima-Agenda überraschend schnell verwässert, als die Landwirte Anfang 2024 protestierten.
Aus geopolitischer Sicht ist dieser Wandel ein Rückschritt. Einige der Herausforderungen, vor denen Europa heute steht, sind geopolitischer Natur - globale Wettbewerbsfähigkeit, Klimawandel, äußere Sicherheit. In einer Welt, die zunehmend mehr durch nationale Interessen als durch globale Regeln bestimmt wird, ist Europas größter Trumpf seine Größe. Um diesen Vorteil effektiv nutzen zu können, muss sich Europa selbst zu einem staatsähnlichen Gebilde entwickeln, mit gemeinsamen Schulden, einer gemeinsamen Steuerpolitik, einem gemeinsamen Kapitalmarkt und einer gemeinsamen Verteidigung. Ein Rechtsruck in der Politik erschwert die Verwirklichung all dieser Ziele, selbst wenn der Umfang des Rechtsrucks bescheiden ist.
Fazit
Wir sehen die Wahlen als moderaten Gegenwind für die EU. Umfragen deuten auf eine stärkere Vertretung der Rechtsextremen in der neuen Legislaturperiode hin, was es für die EU unter sonst gleichen Bedingungen schwieriger machen wird, sich in der neuen geopolitischen Landschaft zurechtzufinden. Da dies grundlegende Fragen der Wettbewerbsfähigkeit der EU berührt, sehen wir die Wahlen mittelfristig als leicht negativ für europäische Vermögenswerte an.
Eine größere Auswirkung hat die Frage, ob sie eine ähnliche politische Entwicklung auf nationaler Ebene in einem der großen europäischen Länder ankündigt. Dies hätte wesentlich stärkere Auswirkungen und könnte zu einer Ausweitung der Risikoprämien für Staatsanleihen führen, sowohl innerhalb des Blocks als auch im Vergleich zu anderen Ländern außerhalb der EU.
Von Elliot Hentov, Leiter des Macro Policy Research bei State Street Global Advisors