Das habe ich mich im Februar gefragt, als trotz Aufschwung immer neue Konjunkturpakete aufgelegt wurden. Seitdem wurde die Frage noch dringlicher – und die Antwort komplexer.
Wie können wir einen enttäuschenden US-Arbeitsmarktbericht mit einer boomenden Wirtschaftstätigkeit und einer Inflation von 4,2 % in Einklang bringen? Ist die höhere Teuerung vorübergehend oder strukturell? Ist das der Inflationsanstieg, mit dem alle seit dem Frühjahr zu rechnen schienen? Wurde durch die Impfungen die Nachfrage einfach nur um ein paar Monate vorgezogen, oder unterschätzen wir den Preisanstieg im Sommer? Ist es beruhigend, wenn in der Fed die Falken zu Tauben werden und Präsident Biden davon spricht, dass die Wirtschaft noch mehr Hilfen braucht? Oder passt man sich einfach nur der Mehrheitsmeinung an?
Wir glauben, dass die Inflation anzieht und das an Aktien und Anleihen nicht spurlos vorübergeht. In den nächsten Monaten könnten Überraschungen zu Volatilität führen. Aber ist das wirklich das Ende der Erholung?
Arbeitsmarkt
In den USA wurden im April nicht die erwarteten eine Million Stellen geschaffen, sondern nur 266.000. Das lag aber nicht an verfügbarer Arbeitskraft.: Derzeit gibt es mehr als acht Millionen offene Stellen. Es kündigen wieder so viele Mitarbeiter wie vor Corona, wenn nicht mehr – ein klares Zeichen dafür, dass man leicht einen neuen Arbeitsplatz finden kann. Der Job Openings Hard to Fill Index der National Federation of Independent Business steht auf einem Rekordhoch. Noch nie konnten so viele Stellen nicht besetzt werden.
Mein Anleihenkollege Robert Dishner schreibt, dass es schon vor Corona nicht einfach war, Mitarbeiter zu finden. Jetzt sei es noch schwieriger. Zum Ende des Lockdowns fällt die Neubesetzung von Stellen schwer. Immer mehr Babyboomer gehen in Rente, und wegen Corona könnten manche dies vorzeitig tun.
Ein interessantes und durchaus verwirrendes Detail aus dem Arbeitsmarktbericht ist, dass heute zwar nominal 1,6 Millionen mehr Amerikaner eine Stelle suchen als im Februar 2020, aber eine Million davon eigentlich gar nicht arbeiten will. Einige müssen erst neue Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden, andere sind noch immer skeptisch wegen Corona, und wieder andere bleiben zu Hause, weil mit den jüngsten Konjunkturprogrammen manche staatlichen Transferleistungen deutlich verlängert wurden.
Engpässe
Neben anderen Engpässen scheint die Arbeitsmarktlage die Inflation zu treiben. Viele, wenn nicht alle Faktoren scheinen aber vorübergehend.
Auf dem Höhepunkt der Pandemie hatten Unternehmen aus dem Freizeit- und Gastgewerbe über acht Millionen Stellen abgebaut. Mittlerweile ist die Beschäftigung nur noch um 2,8 Millionen niedriger. Die Lohninflation wird durch diesen Sektor verzerrt. Allein letzten Monat stiegen die Löhne von Arbeitern ohne Führungsverantwortung im Freizeit- und Gastgewerbe um 2,7%.
Angesichts des Neustarts der Wirtschaft überrascht das nicht, ebenso wenig wie die Teilindizes des Verbraucherpreisindex vom letzten Mittwoch. Da nur 3,6% Teuerung erwartet wurden, schienen 4,2% hoch. Entscheidenden Anteil daran hatten aber Gebrauchtwagen, Auto- und LKW-Vermietung, öffentliche Verkehrsmittel, Flugtickets, Freizeitdienstleistungen und Hotels. Mieten und die Preise für medizinische Dienstleistungen änderten sich hingegen kaum.
Interessant sind die neuesten Überlegungen unseres Fixed Income Teams. Viele ihrer Portfolios haben vom deutlichen Anstieg der Break-even-Inflation in den USA und Europa profitiert, die inflationsindexierten Titeln wie amerikanischen TIPS zugutekommt. Jetzt reduzieren meine Kollegen den Anteil fünf- bis zehnjähriger Papiere zugunsten 30-jähriger. Sie gehen davon aus, dass die zunächst hohe Inflation beim Neustart der Wirtschaft in den Kursen mittlerweile vollständig eingepreist ist, nicht aber die moderate, wenngleich strukturelle Inflation durch den Ruhestand der Babyboomer und fehlende Qualifikationen für eine immer stärker automatisierte Wirtschaft.
Wir denken daher ähnlich wie die Fed, wenn auch weniger radikal. Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt, Lieferengpässe, Mangel an Rohstoffen und wichtigen Vorprodukten – all dies ist nicht zu leugnen und kann zu einer höheren Inflation führen, wenn die Nachfrage im Sommer steigt. Aber das ist vorübergehend und dürfte nachlassen, wenn die Wirtschaft wieder vollständig öffnet.
Unter dem Strich glauben wir, dass die Inflation einen wichtigen Wendepunkt erreicht hat und rechnen auch mit einer strukturell höheren Teuerung als im letzten Konjunkturzyklus. Aber wir erwarten keinen so starken Preisanstieg, dass dies die Märkte aus dem Tritt bringen könnte. Für risikobehaftete Wertpapiere und Aktien sind wir daher optimistisch. Die Nachfrage ist stabil, und die nominalen Umsätze und Unternehmensgewinne dürften aufgrund der etwas höheren Inflation steigen.
Neustart und Erholung
Warum aber haben die Anzeichen für eine höhere Inflation zum Ausverkauf am Aktienmarkt geführt?
Eine moderate Inflation kann Aktien zwar mittelfristig nützen, aber eine unerwartet hohe sorgt meist für steigende Zinsen und mehr Volatilität. Für Rohstoffe wiederum ist eine höhere Inflation, die den Sommer über durchaus anhalten könnte, meist gut.
Für Unsicherheit sorgen auch die extrem hohen Aktienkurse, die hohen Bewertungen, die reichlich vorhandene Liquidität und das Gerede über übermäßige Portfoliorisiken. Letzte Woche kam es zu einem Ausverkauf, aber eine Woche davor waren S&P 500 und STOXX 600 auf neue Rekordhochs gestiegen. Zu den volatilsten Titeln zählen zurzeit hoch bewertete Technologieaktien, also zinssensitive Wachstumswerte. Sie dominieren amerikanische Large-Cap-Indizes wie den S&P 500 immer mehr. Hinzu kommen neue geopolitische Spannungen, und das Coronavirus scheint sich jetzt von USA und Europa nach Asien zu verlagern. Außerdem fürchtet man die langfristigen Auswirkungen der Konjunkturprogramme auf Staatsverschuldung und Steuerpolitik.
In derart unsicheren Zeiten muss man sich über Volatilität nicht wundern. Wenn aber die Angst vor einer dauerhaft hohen Inflation eine wesentliche Rolle dabei spielt, halten wir sie für eine Chance, die man nutzen sollte – für den Aufbau neuer Positionen, wenn immer größere Teile der Wirtschaft wieder zu arbeiten beginnen.
Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer – Equities, Neuberger Berman