Alle reden über Inflationserwartungen, Notenbankpolitik, steigende Staatsanleiherenditen und die Fiskalpolitik. Da überrascht es nicht, dass Aktieninvestoren vor allem die Zinssensitivität der Bewertungen im Blick haben und das Tauziehen zwischen Wachstumswerten mit langer Duration und Substanzwerten mit kurzer Duration beobachten.
Und doch ist – außer auf sehr kurze Sicht – das Gewinnwachstum für die Aktienerträge wichtiger als die Bewertungen. Spätestens seit den 1960ern beträgt, bei einer Haltedauer von über 3 Jahren, die Korrelation des Gewinnwachstums mit den Erträgen 80% bis 90%.
Diese Woche beginnt die Berichtssaison für das 2. Quartal. Da mit außergewöhnlich hohen Gewinnen gerechnet wird, ist es besonders wichtig für Investoren folgende fundamentale Entwicklungen im Blick zu behalten.
Ein wachstumstarkes Umfeld
Die Weltwirtschaft macht gute Fortschritte und die Weltbank rechnet für dieses Jahr mit einem globalen BIP Wachstum von 5,6%. Für die USA erwartet das Conference Board dieses Jahr 6,6% Wachstum und für das 2. Quartal – annualisiert – sogar beeindruckende 9%.
Das dürfte sich auch in den Unternehmensgewinnen zeigen.
Im Vorjahresvergleich haben die Gewinne der S&P-500-Unternehmen im 1. Quartal um fast 50% zugelegt. Den größten Anstieg erwarten die Analysten aber im gerade zu Ende gegangenen 2. Quartal – plus 65,1% zum Vorjahr nach den jüngsten Konsensschätzungen von Refinitiv I/B/E/S. Sicher, vor zwölf Monaten war die Wirtschaft ungewöhnlich schwach. Aber seit der Erholung von der Finanzkrise 2009 waren wir von derart guten Zahlen weit entfernt.
Bei Neuberger Berman gehen wir davon aus, dass die S&P-500-Unternehmen dieses Jahr 205 US-Dollar Gewinn je Aktie erwirtschaften, 47% mehr als 2020. An der Spitze dürften der Finanz- und der Energiesektor stehen, die beide sehr konjunktursensitiv sind. Auch mehrere Dienstleistungsbranchen aus dem Konsumverbrauchsgütersektor dürften sehr gute Zahlen vorlegen – Gastgewerbe, Unterhaltung, Restaurants und Luftfahrt haben sich noch nicht wieder vollständig vom Lockdown erholt.
Nicht nur in den USA
Das hohe Gewinnwachstum hat viel mit der niedrigen Vergleichsbasis auf dem Höhepunkt der Coronakrise vor einem Jahr zu tun – aber nicht nur. Wenn die Gewinne im 2. Quartal um 65% steigen, wären sie auch um 10% höher als im 2. Quartal 2019.
Auch beschränken sich die guten Zahlen keineswegs auf die USA. Nach Refinitiv I/B/E/S waren die Gewinne der STOXX-Europe-600-Unternehmen im 1. Quartal um 96% höher als vor einem Jahr. Für das 2. Quartal werden sogar 104% Zuwachs erwartet, nicht zuletzt wegen der konjunktursensitiven europäischen Exportwirtschaft. Es kommt nicht oft vor, dass die Gewinne der größten europäischen Unternehmen stärker wachsen als die ihrer US-Pendants, aber dieses Jahr könnte es so sein. Auch die Unternehmen des MSCI Emerging Market Index könnten die US-Firmen übertreffen. Hier wird 2021 mit 50% höheren Gewinnen gerechnet als im Vorjahr.
Aufwärtspotenzial
Wir wissen, dass sich (gute wie schlechte) Erwartungen in den Aktienkursen widerspiegeln. Was bedeutet all das also für den Ausblick für die kommenden sechs bis zwölf Monate?
Hier werden die Bewertungen dann doch noch relevant. Mit Kennziffern ähnlich wie in der Dotcom-Zeit sind weder amerikanische noch europäische Aktien zurzeit besonders günstig. Wir meinen, dass die hohen Gewinne des 2. Quartals in den Kursen schon berücksichtigt sind.
Dennoch können bei einem derart großen Anstieg die Schätzungen auch stark danebenliegen. In den letzten Monaten haben die Analysten ihre Prognosen oft nicht schnell genug an die Erholung angepasst. Viele Unternehmen halten sie noch immer für zu pessimistisch. Von den 103 S&P-500-Unternehmen, die sich vorab zu ihren Zweitquartalsgewinnen geäußert haben, stellen 66 ein Ergebnis über den Medianerwartungen der Analysten in Aussicht, so viele wie noch nie. Das jedenfalls ergibt sich aus den FactSet-Zahlen vom 25. Juni.
In der Regel steigen und fallen Märkte nicht linear. Keine Hausse kommt ohne Volatilität aus, vor allem, wenn die Notenbanken bei einer einsetzenden Erholung ihre Geldpolitik ändern. Und doch glauben wir, dass die Investoren vor allem auf die Gewinne achten sollten – und nicht darauf, ob die Zehnjahresrendite 1,50% oder 2,00% beträgt. Dies gilt umso mehr, wenn die Gewinne so stark wachsen wie jetzt.
Wenn die Gewinndynamik anhält – und davon sind wir überzeugt –, kann der Markt auch dann stabil bleiben, wenn die Notenbanken umdenken. Mit dem Beginn der Berichtsaison sehen wir bei Aktien daher noch Potenzial, nicht nur in diesem Quartal, sondern auch in den folgenden.
Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer — Equities, Neuberger Berman