Wann ist der S&P 500 zum letzten Mal um mehr als 5% gefallen? Im Oktober letzten Jahres. Und was ist traditionell der schwächste Monat für amerikanische Aktien? Der September.
Wenn Sie das nervös macht, unterscheidet Sie das von vielen anderen Investoren, die nach der Sommerpause im August zuversichtlich scheinen.
Das ist verständlich: Die Anleiherenditen sind niedrig, und Aktien notieren noch immer nur knapp unter ihren Allzeithochs. Die Volatilität hält sich in Grenzen, und die Corona-Inzidenz scheint weltweit nicht mehr weiter zu steigen. Die Konjunkturdaten haben seit dem Höchststand im Frühsommer zwar etwas nachgegeben, aber die Wirtschaft wächst weiter – und etwas schwächere Zahlen dämpfen ja auch den Inflationsdruck, sodass die Geldpolitik expansiv bleiben kann.
Und doch spricht einiges für eine höhere Volatilität in den nächsten Wochen und Monaten – auch ohne dass man dazu die Geschichte bemühen muss.
Tapering
Über der virtuellen Jackson-Hole-Konferenz schwebte der Geist von 2013, dem Jahr des Taper Tantrum. Fed-Chairman Jerome Powell war sehr bemüht, trotz der geplanten leichten Rückführung der Wertpapierkäufe anhaltend niedrige Leitzinsen in Aussicht zu stellen. Und auch wenn er über klare Fortschritte beim Vollbeschäftigungsziel sprach, verwies er auf die noch immer zu hohe Arbeitslosigkeit. Für die Geldpolitik sei der Arbeitsmarkt zurzeit wichtiger als die Inflation. Manchmal frage ich mich, ob die Notenbank ihr doppeltes Mandat – Vollbeschäftigung und Inflation – durch ein Einfaches ersetzt hat, bei dem nur noch die Beschäftigung zählt.
Das erklärt, warum nach den enttäuschenden Beschäftigungszahlen Zweifel aufkamen, ob das Tapering wirklich noch in diesem Jahr beginnt. Aber die Arbeitslosenquote fällt weiter, und die durchschnittlichen Stundenlöhne steigen noch immer. Sie lagen jetzt den zweiten Monat in Folge über den Erwartungen der Volkswirte. Auch andere Zahlen sprechen noch immer für partielle Engpässe am Arbeitsmarkt. Nach wie vor könnten sich die Notenbanken gezwungen sehen, die Wertpapierkäufe schon bald zu verringern.
Ein anderes Thema ist Corona. Nach dem Anstieg zur Jahresmitte infolge der Delta-Variante scheinen die Inzidenzen wie erwartet wieder zurückzugehen. Ein neuer Risikofaktor ist aber, dass auf der Nordhalbkugel der Herbst beginnt. Schulen, Büros und Freizeiteinrichtungen öffnen wieder, man trifft sich häufiger in geschlossenen Räumen, und der Impfschutz lässt nach. Einzelne Ausbrüche von Delta oder anderen besorgniserregenden Varianten könnten noch immer neue Einschränkungen erfordern und die Stimmung belasten.
Politische Risiken
Der vielleicht größte Unsicherheitsfaktor ist aber die Politik.
Dabei geht es weniger um die amerikanische Schuldenobergrenze, die irgendwann im Oktober überschritten wird. Streit ist absehbar, doch am Ende wird man sich im Kongress wohl auf eine erneute Anhebung verständigen. Allerdings droht bei den Demokraten eine erbitterte Auseinandersetzung darüber, wie sich Bidens Konjunkturprogramm durch den Kongress bringen lässt.
Ein parteiübergreifendes Infrastrukturgesetz mit 550 Milliarden US-Dollar Volumen hat den Senat bereits passiert. Einige linke demokratische Senatoren wollen aber erreichen, dass der Senat noch vor der Abstimmung im Repräsentantenhaus allein mit den Stimmen der Demokraten ein 3,5 Billionen US-Dollar schweres Haushaltsgesetz verabschiedet und dazu das Reconciliation-Verfahren nutzt. Die Gesetzesinitiative sieht umfangreiche Sozialausgaben, grüne Investitionen sowie eine erhebliche Anhebung der Unternehmens- und Kapitalertragsteuer vor.
Viele moderate Demokraten lehnen das ab. Sie wollen, dass ihre Partei im Repräsentantenhaus dem kleineren, parteiübergreifenden Paket zustimmt. Parallel dazu solle am neuen Vorschlag der Demokraten weitergearbeitet werden – vermutlich mit dem Ziel, ihn zu kürzen.
Vor allem im Senat haben die gemäßigten Demokraten viel Einfluss. Um ihren eigenen Entwurf zu verabschieden, können sich die Demokraten maximal drei Abweichler im Repräsentantenhaus leisten – und im Senat brauchen sie sogar alle 50 Stimmen ihrer Fraktion. Der demokratische Senator Joe Manchin aus West Virginia hat schon erklärt, dass er sich eine Denkpause wünsche, und die Zustimmung anderer Senatoren scheint ebenfalls unsicher. Um den 27. September herum könnte der Streit eskalieren. Spätestens dann will Sprecherin Nancy Pelosi nämlich abstimmen lassen.
Das Volumen des Konjunkturprogramms könnte den Markt dann ebenso überraschen wie die Einzelmaßnahmen und die Aufteilung der Finanzierung auf Kreditaufnahme, Kapitalertragsteuer, Unternehmensteuer und Einkommensteuer. Die Einzelmaßnahmen, vor allem bei der ersten Lesung im Repräsentantenhaus, könnten von den Wünschen einiger weniger Abgeordneter abhängen – mit der Folge, dass dann ein noch größeres und teureres Paket zur Diskussion gestellt wird, als der Kongress am Ende verabschieden wird. Aber bis dahin wird es an irritierenden Schlagzeilen nicht mangeln.
Die Ruhe vor dem Sturm?
Zurzeit gehen wir davon aus, dass Sachzwänge das Paket schrumpfen lassen werden. Die Steuererhöhungen werden dann eher moderater, ausgewogener und wirtschaftsfreundlicher ausfallen.
Auch glauben wir, dass ein neuerlicher starker Anstieg der Corona-Inzidenzen die Wirtschaft kaum aus dem Tritt bringt und die Notenbanken alles in allem bei ihrer expansiven Geldpolitik bleiben. Dies dürfte das BIP und die Unternehmensgewinne weiter steigen lassen und risikobehafteten Wertpapieren entgegenkommen.
Jede dieser Annahmen könnte sich aber leicht als Trugschluss erweisen, wenn es Herbst wird, sich die Themen ändern und die Investoren andere Dinge in den Blick nehmen. In den USA kennt man die October Surprise. Diese sogenannte Oktoberüberraschung ist ein Ereignis, das plötzliche Zweifel am schon sicher geglaubten Wahlausgang im November auslöst. Die politischen Auseinandersetzungen auf dem Capitol sind die große Unbekannte, die an den Aktienmärkten zu einer September- oder Oktoberüberraschung führen kann – fast ein Jahr nach den letzten etwas größeren Turbulenzen.
Joseph V. Amato, President and Chief Investment Officer, Equities, Neuberger Berman